Modelle sind verpönt. Jedenfalls bei Praktikern. Manchmal auch bei Studierenden. Modelle stehen nicht eben im Ruf, das zu fördern, was man gemeinhin unter Praxisbezug versteht. Sie gelten als abstrakt und realitätsfremd, zumindest als unpraktisch. Gerade wenn es sich um ökonomische Modelle handelt und vor allem wenn sie im mathematischen Gewand daher kommen.
Deshalb fragt sich, warum Modelle in den Wirtschaftswissenschaften dennoch in Lehre und Forschung regelmässig verwendet werden. Es zeigt sich, dass Modelle ein natürlicher Bestandteil menschlichen Denkens sind und verschiedene Modellarten existieren, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Versteht man diese, erweist sich die Abneigung gegen Modelle als unbegründet.
Modelle im Kopf
Zunächst dienen Modelle nichts anderem als der Reduktion von Komplexität. Sie sind Abstraktionen, das heisst vereinfachte Darstellungen von Wirkungszusammenhängen, die uns das Leben erleichtern. Deshalb nutzen wir sie täglich, meist unbewusst.
Wenn wir Autofahren, haben wir eine allgemeine, simplifizierte Vorstellung – also ein Modell – davon, wie unser Fahrzeug funktioniert. Wir wissen im Prinzip, wie ein Ottomotor funktioniert, wie Beschleunigung und Bremsen auf die Insassen wirken und dass es bei schneller Fahrt auf nasser Strasse zu Aquaplaning kommen kann. Die genauen, dahinter stehenden physikalischen Gesetze können allerdings die Wenigsten im Detail erklären. Für den täglichen Gebrauch ist dies aber völlig unerheblich. Uns reicht ein grobes und heuristisches, aber handlungsleitendes Modell, das eine sichere Fahrt von St.Gallen nach Genf erlaubt.
Hier wird deutlich, dass unser Leben von modellhaften Vereinfachungen geprägt ist und wir alle Alltagstheorien mit uns herumtragen. Charakteristisch dabei ist, dass unsere Hinterkopfmodelle oft intuitiv, undifferenziert und manchmal widersprüchlich sind. Meist können wir ihre Herkunft nicht recht angeben und es fehlt eine klare Begründung der Zusammenhänge. Hierin liegt der fundamentale Unterschied zu wissenschaftlichen Modellen. Diese sind explizit, systematisch und kohärent, worauf später noch genauer eingegangen wird.
Forschung am lebenden Modell
Bemerkenswert ist vorerst, dass ökonomische Modellvorstellungen in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Die noch junge Forschungsrichtung der „Economic Beliefs“ geht der Frage nach, welche Vorstellungen Laien über ökonomische Zusammenhänge haben. Studien belegen, dass Menschen über verschiedene Modelle verfügen, etwa bezüglich der Entstehung von Arbeitslosigkeit und Inflation. Bei Befragungen zeigt sich, dass die ökonomischen Vorstellungen allerdings oft nicht schlüssig und manchmal gar falsch sind.
Zudem sind die Laienmodelle stark normativ geprägt. In einer an unserer Hochschule durchgeführten Arbeit konnten auch deutliche Unterschiede zwischen Wirtschaftsstudenten und Studierenden anderer Studienrichtungen sowie zwischen Politikern und Nichtpolitikern gezeigt werden.
Diese Thematik ist insbesondere deshalb relevant, weil die öffentliche Diskussion und der politische Entscheid — sei es im Parlament oder an der Urne — massgeblich durch die Modellvorstellungen der Entscheidungsträger geprägt werden. Darüber dass Arbeitslosigkeit bekämpft werden soll, herrscht Einigkeit. Doch der Weg wie dies geschieht, hängt von verwendeten Modell ab.
Verschiedentlich habe deshalb ich in diesem Blog auf “falsche Modelle” in der Kategorie THE MYTHBUSTER hingewiesen.
Aufgrund ihres Zwecks, lassen sich Modelle grundsätzlich in etwa vier grobe Kategorien unterteilen, in wissenschaftliche Erklärungsmodelle, Lehrmodelle, Rechenmodelle und Prognosemodelle.
Wissenschaftliche Erklärungsmodelle
Sie dienen einem umfassenden, systematischen Verstehen. Deshalb müssen Wissenschaftler äussersten Wert auf Klarheit, Transparenz und Widerspruchsfreiheit ihrer Modelle legen. Wichtig ist auch die Offenlegung aller getroffenen Annahmen. Dies macht diesen Modelltypus, im Unterschied zu Laienmodellen, offen für Kritik. Das Modell muss sich im Diskurs der Forscher und im empirischen Test an den Daten bewähren.
Über eine lange Tradition verfügen ökonomische Modelle in der wirtschaftspolitischen Beratung. Die Volkswirtschaftslehre hat es seit jeher auch als ihre Aufgabe gesehen, politische Entscheidungen vorzubereiten und deren Umsetzung zu unterstützen. Ohne klare, modellhafte Vorstellungen über wirtschaftliche Zusammenhänge, kann es leicht zu Fehlschlüssen mit weitreichenden Konsequenzen kommen.
Dass Modelle dabei zugleich realistisch zu ein hätten, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Denn es ist gerade die Tugend des Modells, von der Realität zu abstrahieren.
Nehmen wir wiederum das Beispiel des Autofahrers, der nun eine Strassenkarte verwendet. Diese ist nichts anderes als ein abstraktes Modell der Strassenrealität. Wäre die Karte realistisch und verfügte über alle Details – etwa im Massstab 1:1 – wäre sie hochgradig unbrauchbar. Der Vorzug des Modells liegt also nicht im Realismus, sondern in der gezielten Reduktion auf das Relevante. Was nun aber relevant ist, hängt von der Fragestellung ab. Diese allein bestimmt, welches Modell das richtige bzw. adäquate ist. Für eine Autobahnfahrt nach Genf wird ein anderes Modell benötigt, als für die Suche einer bestimmten Adresse innerhalb der Ortschaft. Mit der Fragestellung wechselt auch das Modell, sprich die Strassenkarte.
An diesem Beispiel zeigt sich ein weiteres. Das Modell Strassenkarte beruht auf einer vollkommen falschen Annahme, nämlich dass die Erde flach sei. Allerdings ist sogleich einsichtig, dass diese Annahme für normale Verwendungszwecke irrelevant ist, weshalb sie nicht zu falschen Ergebnissen führt und folglich nicht zu kritisieren ist. Analog zielt die häufig an ökonomischen Modellen geübte Kritik über deren mangelnde Realitätsnähe ins Leere. Stattdessen wäre ihr Erklärungsgehalt, insbesondere im Vergleich zu alternativen Modellen mit dem selben Erklärungsziel, zu hinterfragen. Leider geschieht dies selten.
Eine weitere Quelle der Kritik liegt darin, dass wissenschaftliche Modelle meist keinen Handlungsbezug aufweisen. Sie dienen in ihrer Reinen Form dem Verstehen der natürlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Welt und sind nicht unmittelbar der Nützlichkeit verpflichtet. Dies macht sie für Praktiker zunächst unattraktiv.
Lehrmodelle
Als weitere Modellart sind die Lehrmodelle zu nennen. Sie dienen der didaktischen Vereinfachung und der Systematisierung des Denkens im Lehr-Lern-Prozess. Oft sind Lehrmodelle aber übersimplifiziert und können gar zu falschen Schlussfolgerungen führen. So scheint etwa das Modell des Wirtschaftskreislaufs zu bedeuten, dass wirtschaftliche Produktion und Wachstum auf einem Kreislauf von Waren und Geld beruhen.
Das ist falsch. Denn es handelt sich stets um einen äquivalenten Tausch von Leistung gegen Kaufkraft, z.B. von Arbeit gegen Lohn oder von Waren gegen Geld. Deshalb kann man wirtschaftliche Aktivität auf zwei Arten messen: als Leistungsstrom und als Geldstrom. Und dies ohne, dass etwas kreisen würde. Wie jeder weiss: auch in der so genannten Kreislaufwirtschaft kann keiner sein Einkommen mehr als einmal ausgeben. Eine genauere Erklärung kann man in meinem Blogeintrag vom 14. August 10 nachlesen.
Ein zusätzliches Problem der simplen Lehrmodelle besteht darin, dass sie einer undifferenzierten Kritik Tür und Tor öffnen. Fachfremde Kritiker beziehen sich gerne auf die Modelle der ersten Lehrbuchkapitel, um eine vermeintlich falsche und simplifizierte Sicht zu brandmarken. Es ist schade, das beispielsweise die Kritiker des so genannten Neoliberalismus meist weder in der Lage sind, diesen Begriff zu definieren, noch die Modelle der fortgeschrittenen Stufe studiert haben.
Rechenmodelle
Die dritte Modellart betrifft quantitative Rechenmodelle, die als Algorithmen der formalen Bestimmung von Lösungen in meist komplexen Wirkungszusammenhängen dienen. Die betriebliche Finanzbuchhaltung ist ein Beispiel für eine quantitatives, vereinfachtes Modell einer Firma, das unter anderem der Ermittlung von Kennzahlen dient. In der Betriebswirtschaftslehre ist dieser Modelltypus im Rahmen des Operations Research, der Logistik oder der Finance verbreitet. Ähnlich wie der Ingenieur, findet der Betriebswirt in diesen Modellen Unterstützung für seine Entscheidungen.
Das zentrale Problem dieser handlungsorientierten Modelle besteht im Zusammenwirken von Entwickler und Anwender. Während sich der Modellbauer als Spezialist auf das Funktionieren des Modells und die Verfügbarkeit der Daten konzentriert, ist der Anwender bzw. Manager primär am Ergebnis orientiert. Schliesslich wird dieser für sein praktisches Handeln bezahlt und erwartet vom Modell eindeutige Antworten.
Im ungünstigen Falle wird ein komplexes Modell, das auf unzutreffenden Voraussetzungen und ungenügenden Daten beruht, von einem ergebnisorientierten Management eingesetzt, das weder die Komplexität durchschaut, noch die Mängel und Grenzen des Modells erkennt. Bei der Entstehung der Finanzkrise mag dieser Fall da und dort eine Rolle gespielt haben.
Prognosemodelle
Schliesslich ist auf Modelle zu verweisen, die prognostischen Zwecken dienen. Prognosemodelle sind meist quantitativ, aber nicht unmittelbar handlungsorientiert. Deshalb weisen sie ähnliche Probleme auf wie Rechenmodelle, stellen aber zusätzliche Anforderungen an die Interpretation der Ergebnisse.
Seriöse Prognosen begnügen sich nicht mit einer einzigen Ergebniszahl, sondern geben zudem den mit ihr verbundenen Unsicherheitsbereich an. Bedeutung haben auch Simulationsmodelle, die mit verschiedenen Szenarien arbeiten. Langfristige Modelle, welche z.B. unterschiedliche Annahmen über die Bevölkerungsentwicklung und Migrationsströme treffen, sind hier typisch. Damit lässt sich beispielsweise abschätzen, wie sich der Bedarf an Wohnraum oder an Energie, oder die Lage der Sozialversicherungen langfristig entwickeln wird.
Bezüglich der Umsetzung der Ergebnisse ist zu beachten, dass das Prognosemodell selbst meist keine Aussagen über optimale Handlungsstrategien macht. Arbeitsgruppen und politische Gremien sind deshalb regelmässig enttäuscht, wenn selbst ein aufwendiges, wissenschaftliches Prognose- oder Erklärungsmodell nicht zu eindeutigen Lösungen für konkret anstehende Probleme kommt. Es zeigt sich, dass sich viele Entscheide sich weder an ein Modell, noch an die Wissenschaft insgesamt delegieren lassen.
Fazit
Bei näherem Hinsehen ist die verbreitete Abneigung gegen Modelle also unbegründet. Wir alle haben sie im Kopf und nutzen sie täglich. Formale und explizite Modelle helfen beim Verstehen, Erklären und Prognostizieren komplexer Zusammenhänge. Deshalb haben sie ihren festen Platz in der Wissenschaft. Die moderne Ökonomie könnte nicht auf sie verzichten, denn: „Economists do it with models…“