Wir leben in Zeiten staatlicher Rettungsaktionen. In der Schweiz wurde 2001 die Swissair vor dem definitiven Grounding gerettet. Im Rahmen der Banken- und Finanzkrise 07/08 rettete der Staat die UBS vor dem Bankrott. Weltweit gab es ähnliche Aktionen für notleidende Banken und Versicherungen. Und nun soll ein ganzer Staat, nämlich Griechenland, gerettet werden. Ist das eine gute Idee?
Das Problem war vorhersehbar und wurde von Ökonomen in den 1990er Jahren intensiv diskutiert. Wenn ein Staat über seine Verhältnisse lebt und Defizite macht, steigen die Zinsen und seine Währung wertet sich ab. Normalerweise. Ist das Land nämlich Teil einer Währungsunion, wie Griechenland, kann es seine Währung nicht mehr autonom abwerten und die Gemeinschaftswährung, sprich der Euro, kommt unter Druck. Zudem steigen die Zinsen weniger als sie müssten, weil die Finanzmärkte davon ausgehen, dass das Land von den Partnern gerettet wird. Steigende Zinsen und fallende Währung dienen als natürliche Bremse staatlicher Verschuldung, doch ist dieser Mechanismus aufgrund der Delegation von Geld- und Währungspolitik an die EU weitgehend ausgeschaltet.
Optimaler Währungsraum?
Das Problem besteht also in der Entkoppelung von Geld- und Fiskalpolitik, indem die disziplinierende Wirkung ersterer auf letztere sowie die nationale Abstimmung beider Politiken entfällt. Dies hatte man im Vorfeld der europäischen Währungsunion im Prinzip erkannt. In den 1990er Jahren stellte Europa noch keinen optimalen Währungsraum dar.
Die Kriterien für einen solchen Währungsraum waren damals ein beliebtes Prüfungsthema an Schweizer Hochschulen — jedenfalls im Fach Volkswirtschaftslehre. Im Grundsatz sollten sich die Partnerländer wirtschaftlich ähnlich sein, d.h. keine allzu grossen Unterschiede bezüglich Arbeitslosigkeit, BIP pro Kopf, Inflation aufweisen, damit makroökonomische Schocks gut absorbiert werden können und es nicht zu Ungleichgewichten kommt (vgl. EU-Parlament).
Auch das Problem mangelnder fiskalpolitischer Disziplin von Mitgliedsländern wurde erkannt. Deshalb wurden die sog. Maastricht-Kriterien (Konvergenzkriterien) für alle Länder aufgestellt, die der Währungsunion beitreten wollten. Neben einer moderaten Inflationsrate, durfte in einem Beitrittsland die jährliche Nettoneuverschuldung nicht mehr als 3% des Bruttoinlandsprodukts betragen und der gesamte Schuldenbestand durfte nicht mehr als 60% des BIP ausmachen. Das waren die Beitrittsbedingungen.
Nach dem Beitritt zum Euroraum wurden diese Bedingungen allerdings nicht mehr durchgesetzt, obwohl die beiden Haushaltskriterien (aufgrund des Drängens des deutschen Finanzministers Theo Weigel) eigentlich noch Gültigkeit haben. Schon 2002 und 2003 verstiessen ausgerechnet Deutschland und Frankreich gegen die Regeln – und wurden moderat gebüsst. Heutzutage könnte eine Reihe wichtiger Länder dem Euro nicht mehr beitreten, nämlich Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Portugal und natürlich Griechenland. Sie alle halten die Maastricht-Kriterien nicht ein (vgl. hier).
Problem der Zeitinkonsistenz
Interessanterweise müsste insbesondere Griechenland aufgrund der Kriterienverletzung eigentlich von der EU massiv finanziell gebüsst werden. Stattdessen geschieht das Gegenteil. Das Land wird nun finanziell unterstützt. Die EU steht hier vor einem Dilemma, das in der Ökonomie wohl bekannt ist und als Zeitinkonsistenz bezeichnet wird. Im Voraus wird mit Massnahmen gedroht, falls ein bestimmtes Verhalten nicht erfolgt. Zum Zeitpunkt, in dem es dann aufgrund der Nichteinhaltung zu Sanktionen kommen müsste, werden diese dann aber nicht durchgesetzt, weil dies die Situation noch verschlimmern würde. Im Grunde erweist sich die Drohung im Nachhinein also als unglaubwürdig und das wissen die Beteiligten im Voraus.
Das Problem der zeitlichen Inkonsistenz ist bei politischem Handeln stets virulent. Auch wenn der Staat einer Firma droht, sie bei anstehendem Bankrott nicht zu retten, stellt sich die Frage wie glaubhaft diese Drohung im Zeitpunkt des effektiven Bankrotts noch ist. Ist die Firma bedeutsam genug, kann sie dennoch auf staatliche Rettung zählen. Das haben wir bei den Banken erlebt.
Griechenland ohne Euro
Analog konnte Griechenland auf die Rettung durch die EU zählen und hat wohl auch deshalb ungenügende Haushaltsdisziplin geübt. Denn es war klar, dass der Euro unter Druck kommen würde und die EU etwas zugunsten Griechenlands unternehmen müsste, statt die vertraglich verankerten Geldbussen zu verhängen. Es handelt sich um das selbe Szenario einer impliziten Versicherung, das zu risikoreichem oder undiszipliniertem Verhalten (sog. moral hazard) führt, wie wir es bei der UBS erlebt haben. Die einzig richtige Konsequenz wäre der Ausschluss Griechenlands aus der Währungsunion. Das wäre zwar politisch ein gewagter Schritt, würde aber zugleich für alle Mitgliedsländer das richtige Signal setzen.
Liberale Sicht
Aus liberaler Sicht sind die wiederholten Rettungsaktionen höchst bedenklich. In der Marktwirtschaft kommt es stets zu Übertreibungen und Überreaktionen. Muss der Staat deshalb eingreifen? Die obigen Beispiele zeigen klar, dass staatliche Absicherungen und Rettungen die Sache in aller Regel nicht besser machen, sondern verschlimmern. Der Moral Hazard wird durch staatliches Eingreifen erst verursacht. Die Möglichkeit des Scheiterns muss zur Disziplinierung der Akteure, auch der Staaten selbst, unbedingt erhalten bleiben.
Problematisch bleiben aber dennoch Situationen, in denen das Fehlverhalten eines Akteurs grosse negative Auswirkungen (Externalitäten) auf andere Akteure oder das ganze System hat. Hier wird der Staat oder die Staatengemeinschaft immer versucht sein, einzugreifen. Die Überwindung der zeitlichen Inkonsistenz kann höchstens durch klare Regeln und glaubhafte Automatismen gelingen. Allerdings fehlt oft die Möglichkeit, letztere bindend zu implementieren.
Der Mangel an politischer Selbstbindung kann in manchen Fällen auf nationaler Ebene durch eine verfassungsmässige Verankerung oder institutionelle Regelung überwunden werden. Was in der Verfassung steht, kann in den meisten Ländern nicht so einfach umgangen und allenfalls vor das Verfassungsgericht gebracht werden. Die institutionelle Unabhängigkeit von Notenbanken dient ebenfalls der Überwindung zeitlicher Inkonsistenz in der Geldpolitik. Auf internationaler Ebene fehlen solche Verankerungsmechanismen allerdings weitgehend.
PS: Ein allfälliger Bailout Griechenlands durch die EU und den IWF liefert ein weiteres Beispiel für eine Anreizunverträglichkeit. Denn eine Rettung birgt die massive Gefahr, dass auch andere Länder mit mangelnder Haushaltsdisziplin vorstellig werden. Damit verkehrt sich die ursprüngliche Absicht der Rettungsaktion — die Stabilisierung des Euro — in ihr Gegenteil. Durch den Tabubruch wird der Euro weiter geschwächt.
Wiederum besteht das zentrale Problem darin, dass die Politik über keine Möglichkeit verfügt, die Einmaligkeit einer hellenischen Rettung glaubhaft zu verankern. Das Zeitinkonsistenzproblem wird wiederkehren…