Der Ärztetarif, die Mengenausweitung und die Alternativen
Der Kampf gegen den Kostenanstieg in unserem Gesundheitswesen ist ein Kampf gegen Windmühlen. Man kann ihn im heutigen System kaum gewinnen. Eine Hauptursache ist der Einzelleistungstarif, genannt TARMED. Senkt man den Tarif für gewisse Leistungen, sinken die Kosten nicht, weil meist die Mengen jeweils etwa im selben Masse ansteigen. Hierfür gibt es viele Beispiele. – Ökonomisch gesehen interessant ist die Frage, wie die Mengenausweitung genau funktioniert und welche Alternativen es gibt.
Wenn die Operation von drei Fingern einer Hand dreimal so viel kostet, wie die Operation eines Fingers, nennt sich das Einzelleistungstarif. Die Folge ist, dass der ökonomische Anreiz zur Nutzung von Synergien in unserem Gesundheitswesen relativ gering ist. Denn jede Leistung kann schön separat der Krankenkasse verrechnet werden. Es kommt es sogar vor, dass zwei oder drei Operationen gemacht werden, obwohl mehrere Probleme mit einem einzigen Eingriff behoben werden könnten, nur weil dann der Operationstarif mehrfach kassiert werden kann. – Ob dies geschieht, hängt aber vom behandelnden Arzt und der aktuellen Auslastung des Spitals ab.
Diese Problematik betrifft freilich nicht nur Operationen, sondern prinzipiell alle medizinischen Leistungen, wie etwa auch bildgebende Untersuchungen (z.B. Röntgen) und andere Analysen.
Erfolgloser Bundesrat
2014 wollte der Bundesrat einen Schritt gegen das Kostenwachstum unternehmen und hat deshalb den Tarif für gewisse „technische Leistungen“ gesenkt. Dies war allerdings erfolglos, wie sich nun heraus gestellt hat. In der Sendung 10 vor 10 berichtete SRF, dass ein möglicher Spareffekt durch eine Ausweitung der Mengen der entsprechenden Leistung praktisch wieder kompensiert wurde. Die Zahlen des Krankenkassenverbandes Santésuisse kann man hier nachschauen (Schweizer Fernsehen).
Was den Gesundheitsökonomen nicht überrascht und in früheren Fällen gut zu beobachten war, ist abermals eingetreten. Wie schon bei der Senkung der Labortarife und der Medikamentenpreise, erhöhen die Leistungserbringer (Ärzte, Spitäler, Labors, Röntgeninstitute etc.) nun auch bei den technischen Leistungen die Mengen, um den Einnahmenverlust wett zu machen. Eben ein erfolgloser Kampf gegen Windmühlen.
Erklärungen
Die Erklärung der Ärzteschaft hierfür ist denkbar einfach. Offenbar sei halt die Nachfrage nach diesen Leistungen gestiegen, sodass mehr davon erbracht wurden, meint der Ärztevertreter in der Sendung 10 vor 10. Und anhand der vorliegenden Zahlen, lasse sich nicht belegen, dass die zusätzlichen Leistungen nicht auch wirklich notwendig gewesen wären, versichert der Arzt.
Ökonomisch gesehen, geht es hier um das Phänomen der anbieterinduzierten Nachfrage, welche seit etwa 40 Jahren in vielen Gesundheitssystemen von Ökonomen ausführlich untersucht und dokumentiert wurde:
Weil die Patienten (als Laien) nicht informiert sind, welche Untersuchungen, Eingriffe und Therapien sie wirklich benötigen, haben die Ärzte (als Spezialisten) die Möglichkeit, zusätzliche Leistungen abzugeben und diese zulasten der Krankenversicherung abzurechnen. Die Spannweite reicht von Leistungen die aus medizinischer Unsicherheit oder zur Absicherung möglicher Regressansprüche des Patienten durchgeführt werden, bis hin zu Leistungen die völlig unnötig sind und nur aus monetären Gründen erbracht werden.
Im Einzelfall ist es für Patienten schwierig bis unmöglich nachzuweisen , ob und in wiefern eine Leistung wirklich nötig war. Aufgrund der massiven Informationsasymmetrie weiss der Patient jeweils lediglich, ob es ihm besser geht oder nicht. Ähnlich wie bei der Reparatur eines Autos oder Computers ist es möglich, dass unnötige Leistungen erbracht wurden, selbst wenn nachher alles wieder “funktioniert”. Zu dieser Analogie und so genannten “credence goods” existiert ein sehr lesenswerter Aufsatz.*
Ein strikter Nachweis eines „unnötigen Mengeneffekts“ ist also schwierig. Allerdings liessen sich statistische Hinweise finden.
- Erstens müsste man untersuchen, ob eine (statistisch überdurchschnittliche) Mengenausweitung gerade in jenen Bereichen stattfanden, in denen zuvor eine Tarifanpassung nach unten stattgefunden hat.
- Zweitens müsste man detailliert analysieren, auf welche Weise die Menge der zusätzlichen Leistungen erzeugt wurde. Gab es zuvor namhafte freie Kapazitäten, welche im Anschluss an die Tarifanpassung genutzt wurden, um die Mehrleistungen zu erbringen? Oder wurden neue Kapazitäten geschaffen, etwa indem neues Personal beschäftigt wurde? Oder woher kommen die Mehrleistungen sonst? – Diese Fragen hat der SRF-Journalist dem Ärztevertreter leider nicht gestellt, obwohl ich sie ihm empfohlen hatte.
Beide Themenbereiche sind in der Schweiz kaum untersucht. Leider fühlt sich hierzulande anscheinend auch niemand dafür verantwortlich, entsprechende Studien zu finanzieren.
Lösungswege
Abschliessend stellt sich die Frage nach Alternativen zum heutigen System. Eine ganz grundlegende Verbesserung würde sich durch eine Abschaffung des Vertragszwangs zwischen Ärzteschaft und Krankenkassen ergeben. Wenn die Versicherer Ärzte unter Vertrag nehmen dürfen, treten sie damit in die Fusstapfen der Versicherten und haben einen grossen Anreiz, unnötige Leistungen zu vermeiden – und dies sowohl aus medizinischen als auch aus ökonomischen Gründen. Überbehandlungen können für den Körper ebenso schlecht sein, vielleicht noch schlechter, als fürs Portemonnaie.
Natürlich muss aus Patientensicht bei Wegfall des Kontrahierungszwangs streng darauf geachtet werden, dass die Versicherer nicht die Medizin dominieren. Diese Angst ist hierzulande weit verbreitet und ihr muss unbedingt Rechnung getragen werden. Sofern die Versicherer aber, wie bis anhin, beispielsweise in der Grundversicherung keine Gewinne machen dürfen, ist immerhin ein wichtiger Schutz für die Patienten vorhanden. Zusätzliche Schutzmassnahmen wären zu überlegen.
Eine weitere Alternative, bei welcher die Versicherer zusammen mit medizinischen Netzwerken durchaus Gewinne machen dürfen, besteht in Versicherungsmodellen mit Kopfpauschalen (sogl. Capitation).
Die Grundidee besteht bei diesen Modellen darin, dass ein Kollektiv von Leistungserbringern (med. Netzwerk) von den Versicherten pro Kopf und Jahr eine Pauschale erhält, und zwar unabhängig vom Gesundheitszustand der Versicherten. Damit hat das Netzwerk einen Anreiz, die Versicherten möglichst gesund zu erhalten (und z.B. zur Gesundheitsvorsorge anzuleiten), weil dann weniger Kosten für das Netzwerk entstehen, welche ja aus der fixen Gesamtsumme der Versicherungsprämien zu finanzieren sind.
Je gesünder die Versicherten, umso mehr verdienen die Ärzte!
Diese Umkehrung des heutigen Prinzips bringt eine massive Verbesserung – sowohl aus Sicht der Gesundheit als auch des Geldbeutels. Die Leistungserbringer werden damit zu Unternehmern, die nach einem optimalen Verhältnis zwischen Qualität und Kosten suchen und selbst an einem günstigen Einkauf von Drittleistungen (wie etwa Laboranalysen oder Medikamente) interessiert sind. Überbehandlung lohnt sich hier keinesfalls. Unterbehandlung ebenfalls nicht, weil dann höchstens später weitere Kosten für das Netzwerk entstehen.
Bis es so weit ist, wird es wohl aber noch eine Weile dauern, weil es auch bei Capitation-Modellen viele wichtige Details zu regeln gilt (z.B. Kampf um „gute Risiken“ bei flächendeckender Umsetzung) und sie für alle recht ungewohnt sind. Bis der politische Wille zum Wandel vorhanden ist, werden wir wohl noch mit dem kostentreibenden Einzelleistungstarif leben und erfolglose Revisionen erdauern müssen.
*U Dulleck, R Kerschbamer (2006): On doctors, mechanics, and computer specialists: The economics of credence goods – Journal of Economic literature, Vol. 44, No. 1 (Mar., 2006), pp. 5-42.