31.12.2015

Zeitbomben im Gesundheitswesen

Es soll nachher keiner sagen, die Gesundheitsökonomen hätten nicht gewarnt.

Im Vergleich dazu, was uns wohl noch erwartet, waren die Zeiten bisher rosig. Jährliche Prämienerhöhungen von jeweils rund 4% sind bislang üblich. Aufgrund zweier tickender Zeitbomben könnte es künftig aber einiges mehr sein. Denn einerseits hat der Nationalrat den Ärztestopp nicht verlängert und andererseits wird in vielen Kantonen im Spitalbereich so umfangreich gebaut wie noch nie. Ohne Korrekturen hat beides zusammen das Potential zu einem massiven Kostenschub.

Dass uns die überbordende Bautätigkeit im Spitalbereich eines Tages noch teuer zu stehen kommen könnte, habe ich bereits mehrfach in diesem Blog und in den Medien* betont.

Dabei sind es nicht so sehr die Investitionskosten, welche das Hauptproblem darstellen. Vielmehr ist es die Mischung aus Prestigedenken der Kantone, mangelnder Koordination und fehlender Kooperation, welche teure Überkapazitäten schafft.

Kantönligeist schlägt zu

Auch wenn man bekennender Befürworter der Schweizer Form des Föderalismus ist – insbesondere weil das Prinzip der Subsidiarität häufig zu effizienteren Lösungen führt – zeigt sich hier die kostenträchtige Schwachstelle des Kantönligeistes. Dieser wird im Spitalbereich weder durch eine bundesweite Steuerung, noch durch einen funktionierenden Wettbewerb im Zaum gehalten.

Im Gesundheitswesen ist aber eine Disziplinierung der Angebotsseite dringend nötig, weil das Angebot seine eigene Nachfrage zu guten Teilen selber schaffen kann. Überkapazitäten treten weder offen, noch nachweislich zu Tage, weil zwecks Sicherung der Auslastung stets für Nachschub gesorgt wird. Im neuen Spitaljargon nennt sich dies Zuweiser-Management.

Damit ist insbesondere die Zusammenarbeit der Spitäler mit niedergelassenen Ärztinnen und Therapeuten, sowie mit Heimen und Kliniken gemeint. Ziel ist ein stetiger Patientenstrom zum Spital. Hierbei können auch subtilere Massnahmen helfen, welche die Bettenauslastung verbessern. Etwa indem Patienten länger als nötig im Spital behalten oder für zusätzliche Abklärungen aufgeboten werden. Solche Massnahmen unterliegen in der Regel dem ärztlichen Ermessen, werden aber auch von ökonomischen Interessen überlagert.

Die neuen Fallpauschalen wurden bei der Umsetzung derart entschärft, dass sich die Anreize nicht grundlegend geändert haben. Wichtig ist hierbei anzumerken, dass es nicht einfach um «zu wenig Ökonomie» geht, sondern um Anreize welche sich einseitig am Geschäftsmodell der Spitäler ausrichten, statt am Wohl der Patienten.

Der schweizerische Patientenschutz beklagt zudem etwa, dass manche Patienten zusammen mit einer Diagnose gleich auch schon einen Termin im Spital für einen Eingriff von ihrem Arzt erhalten – ganz im Sinne des modernen Zuweiser-Managements. Doch wird der Patient damit unter zeitlichen Druck gesetzt und die Möglichkeit zur Einholung einer unabhängigen Zweitmeinung – etwa bezüglich der Notwendigkeit des Eingriffs im Vergleich zu Alternativen – ist in sehr kurzer Zeit oftmals nicht gegeben.

Teure Überkapazitäten

Die wahre Problematik der Überkapazitäten, welche momentan in vielen Kantonen geschaffen werden, offenbart sich im folgenden geflügelten Wort, welches aus den USA der 1960er Jahre stammt und als Roemer’s Law bekannt ist. Meine Variante lautet:

«A built bed is a filled bed and a billed bed

Erstellte Betten werden demnach nicht nur gefüllt, sondern auch zulasten der obligatorischen Versicherung abgerechnet. Dies gilt freilich nicht nur für Betten, sondern auch für alle Arten von medizinischen Angeboten, wie etwa Labors, Röntgengeräte und Therapieeinrichtungen. Aufgrund ihres massiven Informationsvorsprungs, lassen sich die Verantwortlichen nämlich nicht in die Karten schauen. Und so wird sich selbst im Nachhinein nicht belegen lassen, dass Überkapazitäten zu unnötigen und unnötig langen Hospitalisationen geführt haben.

Alle verdienen mit

Weil und so lange alle Beteiligten sowohl einen Informationsvorteil haben, als auch gut mitverdienen, wird sich daran nichts ändern. Das Versicherungsobligatorium einerseits und der Kontrahierungszwang andererseits sind hier Garant für sichere Einkommen der Leistungserbringer. Selbst die Patienten klagen nur in Einzelfällen – etwa wenn es zu klaren Schäden kommt – gegen ihre Überversorgung. Wenn Behandlungen lediglich unnötig oder unnötig teuer waren, klagt fast nie jemand.

Einzig die gesunden Prämienzahler hätten ein Interesse an einer wirklich effizienten Versorgung, doch lassen sich deren Interessen notorisch schlecht auf politischem Wege organisieren. Und die einzigen, welche die Anliegen der Versicherten am ehesten noch vertreten könnten – nämlich die Krankenversicherer – sind in ihren Möglichkeiten massgeblich beschnitten. Stichworte sind hier Kontrahierungszwang, übertriebener Datenschutz, umfassender Leistungskatalog ohne echte Wirtschaftlichkeitsprüfung sowie das Verbot von Gewinnen in der Grundversicherung.

Anfängerfehler des Nationalrats

Als ob dies nicht schon genug wäre, hat sich unser frisch gewählter Nationalrat in seiner ersten Session im Dezember 2015 einen Anfängerfehler geleistet. Offenbar im Geiste eines politischen Rechtsrutsches wurde vom Rat eine Verlängerung des Ärztestopps mit hauchdünner Mehrheit abgelehnt.

Augenscheinlich wurde verkannt, dass es sich beim Ärztestopp um eine Re-Regulierung handelt. Der Stopp wurde 2002 nämlich lediglich eingeführt, um ein mögliches Überborden der Praxiszahlen einzudämmen und die Kosten im Griff zu halten. Als 2012 der Zugang zur Schweiz auch für ausländische Ärztinnen und Ärzte kurzfristig offen stand, verdoppelte sich die Zahl der Neuzulassungen schlagartig. Im Tessin kam es sogar zu einer Vervierfachung.

Nun möchte man meinen, dass diese neuen Praxen angesichts des manchmal beklagten Ärztemangels kein Problem wäre. Allerdings geht es im ambulanten Bereich primär um einen Mangel an Hausärzten und anderen Grundversorgern in ländlichen Gegenden. Spezialärzte in Städten gibt es hingegen bislang genügend.

Ambulante Ungleichgewichte überwinden

Um die Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land einerseits sowie zwischen Allgemeinärzten und Spezialisten andererseits einigermassen in den Griff zu bekommen, gibt es mehrere Möglichkeiten.

Erstens kann die Zulassung staatlich gesteuert werden, wie dies bislang geschah. Dies ist zwar im Prinzip eine dirigistische Massnahme, sie ist aber nötig, solange jeder Arzt automatisch zulasten der Grundversicherung Rechnung stellen darf.

Hier treffen wir auf eine Besonderheit unseres Systems: in der Schweiz ist jeder zugelassene Arzt automatisch „Kassenarzt“, in Österreich ist dies schätzungsweise nur etwa die Hälfte der Ärzte. Die Versicherer können hierzulande nicht auswählen, mit welchen Ärzten sie einen Vertrag abschliessen wollen. Dies wird als Kontrahierungszwang bezeichnet und garantiert den niedergelassenen Ärzten ein sicheres Einkommen, verhindert aber jeglichen Wettbewerb.

Zudem wird gemäss dem Vertrauensprinzip bei jeder ärztlich angeordneten, medizinischen Massnahme von Gesetzes wegen angenommen, dass sie wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sei. Lediglich bei umstrittenen Massnahmen existiert eine nicht abschliessende Positiv- Negativ-Liste (so genannter Leistungskatalog).

Zweitens kann man den Wettbewerb spielen lassen. Dies bedeutet eine Aufhebung des Kontrahierungszwangs. Die Versicherer können dann Ärzte in allen Landesteilen unter Vertrag nehmen und haben einen grossen Anreiz, dass flächendeckend gute Leistungen zu vernünftigen Kosten erbracht werden. Dabei geht es aber keinesfalls einfach um „Sparen“, sondern um einen effizienten Einsatz der knappen ärztlichen und medizinischen Ressourcen. Wird am falschen Ort gespart, beispielsweise bei der Prävention, ist es nachher umso teurer – was weder im Interesse der Versicherten, der Patienten, noch der Versicherungen liegt.

Drittens besteht die Möglichkeit eines Mittelwegs. Wie ich in diesem Blog bereits 2012 ausführlich diskutiert habe, kann die Entschädigung der niedergelassenen Ärzteschaft von der Ärztedichte abhängig gemacht werden.** Dies bedeutet, dass auch in einem staatlichen Lenkungssystem eine gesuchte Hausärztin auf dem Lande einen höheren Preis (Taxpunktwert) für ihre Leistungen erhalten kann, als ein Spezialist in der Stadt. Die Knappheiten, welche normalerweise über Marktpreise signalisiert werden, werden in einem solchen System künstlich nachgebildet und in Anreize umgesetzt.

Wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten bei allen rarer werdende Leistungen (z.B. Hausarztversorgung auf dem Lande), lassen sich die Anreize zur Erbringung dieser Leistungen also massgeblich verbessern.

Sowohl durch eine Stärkung des Wettbewerbs, als auch durch die Einführung angebotsabhängiger Preise, kommen wir zu einem Entschädigungssystem, welches etwa bei den Schweizer Zahnärzten völlig üblich ist und seit Jahrzehnten bestens funktioniert. Diese Zunft ist keinesfalls vom Aussterben bedroht und die landesweite, zahnmedizinische Versorgung ist ausgezeichnet.

Fazit

Unter dem Strich ticken also zwei kostenseitige Zeitbomben, die schwierig zu entschärfen sind. Die umfangreiche Spitalbautätigkeit der Kantone wird langfristig unweigerlich zu teuren Überkapazitäten führen, welche als solche kaum erkennbar sind, sich aber in höheren stationären Kosten und weiter steigenden Prämien nieder schlagen.

Etwas besser in den Griff bekommen lässt sich die Problematik der ambulanten Versorgung, indem der Kontrahierungszwang abgeschafft wird oder zumindest ein System angebotsabhängiger Preise geschaffen wird. Regierungen und Parlamente auf nationaler und kantonaler Ebene sind hier dringlich gefordert, die notwenigen Massnahmen einzuleiten.

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*Während das Thema drohender Überkapazitäten bereits im Februar 2015 im Sonntagsblick diskutiert wurde, nahm sich die Neue Zürcher Zeitung der Problematik erst im Dezember 2015 ausführlicher an.

**Gemäss Tagesanzeiger vom 18.12.15 verfolgt die FDP diese Strategie inzwischen:

«Das Rezept der FDP heisst flexible Preise. Schon im letzten Mai hat die Fraktion eine Motion eingereicht mit der Forderung, dass es den Vertragspartnern erlaubt werden soll, regional abgestufte Preise auszuhandeln. Nach der Logik von Angebot und Nachfrage würde das dazu führen, dass Mediziner in Gebieten mit hoher Ärztedichte für die gleiche Leistung weniger Geld erhalten als in Gebieten mit wenig Konkurrenz. Die FDP möchte auch Qualitätskriterien in die Preisgestaltung einfliessen lassen.»

Kommentare

[...] Kantönligeist und seine Kostenfolgen habe ich in diesem Blog bereits ausführlicher geschrieben: Zeitbomben im Gesundheitswesen sowie Rüstungswettbewerb der Kantone im Spitalsektor und auch im Sonntagsblick. Bookmark on [...]

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