6.02.2014

Screening-Industrie im Gegenwind

Wem nützt das Mammographie-Screening?

Das Swiss Medical Board* kommt in einer neuen Studie zum Schluss, dass langjährige, systematische Röntgenuntersuchungen der weiblichen Brust den Frauen mehr schaden als nutzen und deshalb nicht empfohlen werden können. Laufende Programme, wie sie in den meisten Kantonen existieren oder vor der Einführung stehen, seien deshalb nicht dauerhaft fortzuführen. – Damit hat eine langjährige Debatte neuen Aufwind bekommen, in welcher sich Befürworter und Gegner unversöhnlich gegenüber stehen. Ökonomisch gesehen ist dabei nicht nur der Kosten-Nutzen-Vergleich des Screenings interessant, sondern auch wer dafür und wer dagegen ist.

Aufgeschreckt vom jüngsten Verdikt des Swiss Medical Board (SMB) geben sich die Screening-Befürworter in den Medien überrascht bis entrüstet. Dies war auch schon 2007 so, als ich aus Anlass der bevorstehenden Einführung des Screenings im Kanton St.Gallen einen Zeitungsartikel publizierte, der sich skeptisch zum Nutzen solcher Reihenuntersuchungen äusserte. Damals wurde meine Analyse in hochgradig unqualifizierter Weise zerrissen. Heute kommt das höchste Fachgremium der Schweiz zum genau selben Ergebnis. Kurz gefasst, geht es um folgende Punkte:

Geringer Nutzen

Von tausend Frauen die am Screening-Programm während 10 Jahren teilnehmen, werden vier Frauen ohne Nutzen behandelt, und nur eine Frau von den tausend Frauen stirbt weniger an Brustkrebs. Zu bedenken ist zudem, dass es bei tausend untersuchten Frauen zu rund 100 bis 150 Fehlbefunden kommt, welche nicht nur eine grosse psychische Belastung darstellen, sondern auch zu weiteren Abklärungen und teilweise unnötigen Behandlungen führen.

Bezieht man die negativen Folgen von Überbehandlung und Strahlenbelastung mit ein, ist der Gesamtnutzen des Screenings insgesamt sehr gering. So kommt das Fachgremium denn auch zum Schluss, dass auf eine einzelne Frau bezogen, eine minimale positive Wirkung von 0.00327 geretteten Lebensjahren resultiert. (SMB, S. 30)

Die gute Nachricht ist aber folgende: In allen industrialisierten Ländern sinkt die Mortalitätsrate (Sterberisiko) beim weiblichen Brustkrebs aufgrund neuer Medikamente, besserer Therapieverfahren und chirurgischer Techniken, und zwar ganz unabhängig vom Screening. (SMB, S. 19) Auch in der Schweiz ist dieser Trend zu beobachten. Eine sinkende Mortalität war in der Westschweiz schon in den Jahren 1990 bis 1999 zu beobachten, obwohl Mammographie-Screening-Programme in den Kantonen Genf, Waadt und Wallis erst im Jahr 1999 implementiert wurden.

Schlechtes Verhältnis von Kosten und Nutzen

Das Fachgremium beziffert in seiner Studie die Kosten des Screenings auf 810 CHF pro Frau (inkl. zusätzlicher Behandlungskosten). Setzt man diese Kosten ins Verhältnis zum Nutzen, ergibt sich trotz tiefer individueller Kosten ein “ungünstiges Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis, weil auch nur eine sehr geringe Wirkung erzielt werden kann.” (SMB, S. 34)

Irreführende Kommunikation

Die Informationen zu den Brustkrebsrisiken und zu den Vorteilen des Screenings werden systematisch zugunsten des Screenings verzerrt.

Von 1000 Frauen, die 10 Jahre lang am Screening teilnehmen sterben 4 an Brustkrebs, während ohne Screening 5 Frauen sterben. Deshalb wirbt die Screening-Industrie mit einer Reduktion des Mortalitätsrisikos von 20% für die Teilnahme. Fälschlicherweise meinen viele Frauen dann, das Screening bewahre 20 von 100 Frauen vor dem Krebstod.

“Ausschlaggebend für eine evidenzbasierte Entscheidung ist jedoch nicht die relative Risikoreduktion, sondern die absolute Risikoreduktion, die viel niedriger liegt. Dieser Sachverhalt ist nicht nur für die betroffenen Frauen verwirrend und irreführend, sondern wird offensichtlich auch von vielen Fachpersonen nicht verstanden.” (SMB, S. 40)

Warum? Bei der Entscheidung für oder gegen eine Massnahme muss das grundsätzliche Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung berücksichtigt werden. Ist das Risiko einer Erkrankung sehr gering, hat auch die Reduktion dieses Risikos einen geringen Nutzen.

Genau dies ist beim Mammographie-Screening der Fall: Gemäss internationalen Studien ist das absolute Risiko für Frauen über 50 an Brustkrebs zu sterben 0.57% ohne Screening und 0.41% mit Screening. Somit verbessert sich das Risiko aufgrund des Screenings lediglich um 0.16%-Punkte (vgl. SMB, S. 14).

Das bedeutet, dass lediglich 1 bis 2 von 1000 während 10 Jahren geröntgten Frauen einen echten Nutzen haben, die übrigen haben nichts davon. Sie tragen aber vielleicht Schäden durch unnötige Strahlenbelastung und durch zusätzliche Behandlungen davon.

Wie steht es um die Ethik?

Aufgrund der geringen Wirksamkeit und der gleichzeitig bedeutsamen unerwünschten Nebenwirkungen, kommt das Fachgremium zu folgendem Schluss: „Auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens sprechen die ethischen Abwägungen eher gegen als für ein systematisches Mammographie-Screening.“ (S. 41)

Wenn schon, ist Qualität gefordert

Die Qualität des Screenings hängt von der Qualität der Analyse der Röntgenbilder ab. Die Bilder werden immer durch zwei unabhängige Leser begutachtet. Im Zweifelsfall durch einen dritten Leser. Gemäss den EU-Qualitätsstandards muss ein Leser pro Jahr mindestens 5000 Bilder begutachten. Deshalb verfügen etwa die Niederlande über eine zentrale Stelle zur Begutachtung.

In der Schweiz gibt es bislang keine klaren Standards. Und auch keine Zahlen zur Lesehäufigkeit. Dennoch lässt sich abschätzen, dass bei uns manche Leser nicht einmal 500 Bilder pro Jahr analysieren. Die Präsidentin des Patientenstellen-Dachverbands, Erika Ziltener, spricht deshalb von einem “Jekami unter den Radiologen und Kantonen“. (Quelle: Infosperber) Für manche Radiologen ergibt sich hier offenbar eine interessante Möglichkeit zum Nebenverdienst – allerdings zulasten der Qualität.

Wann bringt Früherkennung etwas?

Die so genannte Früherkennung hat einen guten Ruf in der Bevölkerung. Doch wann und wem bringt sie etwas? Dieser Frage geht ein neuer, sehenswerter Bericht im Wissenschaftsmagazin Nano nach (Dauer 6 Minuten). Der deutsche Onkologe Prof. Wolf Dieter Ludwig vom Helios Klinikum Berlin kommt darin zum Schluss, dass nur bei Personen mit erblicher Vorbelastung, bei Personen die beruflich belastenden Stoffen ausgesetzt sind und bei Personen mit bestimmten Vorerkrankungen durch Früherkennung ein zusätzlicher Nutzen entsteht.

Früherkennung von Krebs ist also keineswegs sinnlos, nur bringen flächendeckende Reihenuntersuchungen in vielen Fällen mehr Schaden als Nutzen. Diese Einsicht setzt sich allmählich ausserhalb der Schweiz durch. Wann auch bei uns?

Wer ist dafür und wer dagegen?

In den letzten 20 Jahren hat sich eine ganze Screening-Industrie gebildet. Betrachtet man die Reaktionen auf die SMB-Studie in den Medien wird offensichtlich, dass sich praktisch alle involvierten Fachspezialisten (v.a. Onkologen und Radiologen) für das Screening aussprechen. Die wenigen kritischen Stimmen stammen meist von Personen, die selbst kein finanzielles Interesse am Screening haben.

Bislang war es einfach, die Kritiker als “fachlich unqualifiziert” zu diskreditieren. Mit der neuen Studie des Swiss Medical Board dürfte dies nicht mehr so einfach sein. Die Diskussion ist neu lanciert.

*Ein wissenschaftliches Fachgremium, das von der Ärzteschaft FMH, der Schweiz. Akademie der Wissenschaften SAMW und der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK getragen wird.

PS: Bereits im Jahre 2002 wies der Publizist und Konsumentenschützer Urs P. Gasche in einem NZZaS Artikel auf diese Problematik hin.

Kommentare

In einer Medienmitteilung verteidigt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) das Screening, gesteht aber die Notwendigkeit von Qualitätsverbesserungen ein

“In den letzten Jahren wurden international verschiedene kritische Diskussionen zu Brustkrebsfrüherkennungsprogrammen geführt. Dem Nutzen stehen auch Überdiagnosen und Verunsicherungen der Frauen gegenüber. Der kürzlich publizierte Bericht des Swiss Medical Boards bringt hierzu keine neuen Fakten. Das Bundesamt für Gesundheit hält – im Einklang mit der WHO und zahlreichen europäischen Ländern – an seinen Screening-Empfehlungen fest. Unbestritten ist, dass die Qualität der Programme gefördert werden soll.”

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.5.14
Zweifel an Brustkrebs-Screening:
Hoffnungslos übertherapiert?

Das Mammographie-Screening führt zur Früherkennung von Brustkrebs, allerdings hat dieser Nutzen einen Preis, und zwar in Form von Überdiagnosen und Übertherapien.

Neuer Rückschlag für Brustkrebs-Sreening

Urs P. Gasche / 30. Aug 2015
– Es nützt wahrscheinlich nichts, wenn früh entdeckte Krebsvorstufen operiert werden. Das zeigt eine neue Studie in JAMA Oncology.

Was schon bekannt war:

Wegen des Screenings werden viel mehr Frauen ohne einen Nutzen behandelt als vor dem Tod an Brustkrebs gerettet. Nach Angaben der Krebsliga bringt eine Brustoperation nach einer Früherkennung vier von fünf Frauen keinen Nutzen: «Pro verhinderten Brustkrebstodesfall werden etwa vier Überdiagnosen gestellt.»

Das organisierte Screening zur Früherkennung von Brustkrebs verlängert das Leben der Frauen nicht. Es sterben einige weniger an Brustkrebs, dafür sterben andere früher an den Folgen von Operationen und Bestrahlungen.

Was jetzt neu ist:

Eine soeben im JAMA veröffentlichte grosse Studie zeigt, dass es höchstwahrscheinlich nichts nützt, mit Screenings entdeckte Vorstufen von Brustkrebs zu operieren (Duktale Karzinome in situ DCIS = Krankhafte Wucherungen in einer Brustdrüse).

Weil das Sreening verbessert wurde, finden Röntgenärzte in Brüsten von gesunden Frauen immer häufiger kleine krebsartige Zellen in den Milchgängen. Heute erhalten in der Schweiz rund 1500 an Screenings teilnehmende Frauen eine solche Diagnose.

Die meisten dieser krebsartigen Zellen bleiben ein Leben lang an Ort («in situ») und verursachen keine Beschwerden. Einige wenige breiten sich im Körper aus. Aber die Ärzte können nicht feststellen, welche. Deshalb behandeln sie fast alle betroffenen Frauen.

Operierte sterben nicht weniger häufig an Brustkrebs wie alle andern Frauen

Eine Auswertung der Todesursachen von 108′000 Frauen in den USA, bei denen das Screening krebsartige Zellen «in situ» entdeckt hatte, und die sich diese Zellen entweder brusterhaltend herausoperieren oder sich die ganze Brust entfernen liessen, ergab, dass diese Frauen bis zwanzig Jahre nach der Behandlung ebenso häufig an Brustkrebs starben wie die Frauen in der allgemeinen Bevölkerung. Zur Zeit der Behandlung waren die Frauen durchschnittlich 54 Jahre alt.

Dieses ernüchternde Resultat hat die Fachzeitschrift «Journal of the American Medical Association» JAMA am 20. August veröffentlicht. Bis heute haben weder die Krebsliga noch die grossen Medien in der Schweiz – mit Ausnahme der NZZ – darüber berichtet.

Bei Frauen, die trotz teilweiser oder ganzer Entfernung einer oder beider Brüste an Brustkrebs starben, waren die Brustkrebszellen bereits vor den Operationen im Körper verbreitet, vermutet Steven A. Narod, Hauptautor der Studie und Forscher am «Women’s College Research Institute» in Toronto.

Trotz Früherkennung sind die entdeckten Krebszellen meistens bereits einige Jahre alt, so dass aggressive Zellen Zeit hatten, sich zu verbreiten. Bei der Mehrheit der 956 Frauen, die an Brustkrebs starben, hat man vorher keinen invasiven Primärtumor in der Brust nachgewiesen. Deshalb zweifeln die Forscher daran, dass die krebsartigen Zellen «in situ» einen aggressiven Krebs auslösen können.

Die Resultate der neuen Studie «decken sich mit andern Forschungsergebnissen, die zu ähnlichen Schlüssen kamen», erklärte Barnett S. Kramer, Direktor am «National Cancer Institute» in der «New York Times».

Doch der Schweizer Brustkrebs-Spezialist und Verfechter der organisierten Screenings, Beat Hürlimann, will Ergebnisse einer noch aussagekräftigeren prospektiven Studie abwarten, deren Resultate erst in etlichen Jahren vorliegen werden. Bis dann werde er in St. Gallen alle mit Screening entdeckten Krebsvorstufen weiterhin entfernen, sagte Hürlimann gegenüber der NZZ.

Gleich viele Erkrankungen an invasivem Brustkrebs

Bisher galt es als Ziel der Früherkennung, das Behandeln von Brustkrebs in einem frühen Stadium zu ermöglichen, so dass die Heilungschancen grösser seien, und damit weniger invasiv operiert werden müssten.

So hatte der Onkologe Thomas Ruhstaller vom Kantonsspital St. Gallen erklärt: «Bei einem früh erkannten Tumor sind oft weniger Chirurgie, Bestrahlung und medikamentöse Therapien nötig als bei einem später festgestellten.»

Und Rudolf Morant, Leiter des St. Galler Diagnose-Zentrums Zetup: «Dank Früherkennung können teils grössere Operationen oder aggressive Therapien vermieden werden.»

Jetzt zeigt aber die Krebsstatistik in den USA, dass die frühe Entdeckung und das frühe Behandeln nicht wie erwartet zu einem Rückgang der invasiven Behandlungen geführt hat. Das ist ein starkes Indiz, dass fast alle Frühbehandlungen Überbehandlungen waren – ohne Nutzen für die Frauen.

Krebsspezialist Steven A. Narod folgert: «Die beste Methode, um DCIS zu behandeln, ist nichts zu tun.» Also lohnt sich die Früherkennung mit Screenings nicht.

«Frauen unterschätzen die Folgen von Überbehandlungen»

Die «New York Times» zitiert Karuna Jaggar, Direktorin der Selbsthilfeorganisation «Breast Cancer Action»: Frauen würden das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, häufig überschätzen, und das Risiko von Überbehandlungen ohne Nutzen unterschätzen.

Frauen, die eine Brustkrebsoperation hinter sich haben, hätten es schwieriger, eine Stelle zu finden und verdienen tendenziell weniger als vor der Operation. In ihren Beziehungen käme es zu emotionalem Stress. Häufig leide ihr Selbstwertgefühl. Dazu kämen selten, aber doch, gesundheitliche Komplikationen infolge der Operationen.

«Alle diese Nachteile und Schäden gibt es nicht nur theoretisch», insistiert Karuna Jaggar.

Die «New York Times» besuchte Therese Taylor in Kanada, die sich im Alter von 51 Jahren nach einem Mammografie-Screening, welches kleine krebsartige Zellen entdeckte, eine Brust operieren liess: «Ich war schockiert und hatte Angst». Heute bedauert sie die Operation: «Wenn eine Frau wirklich Krebs hat, ist sie in Ordnung. Aber eine Brustentfernung ohne Nutzen, ärgert mich. Seit der Operation habe ich das Gefühl, nicht mehr attraktiv zu sein.»

Der Schweizer Präventivmediziner Peter Jüni, Professor an der Universität Bern, äusserte Anfang 2015 die Überzeugung, dass die Brustkrebs-Früherkennung «gestoppt werden sollte, weil der Schaden überwiegt». Anders die Krebsliga Schweiz: Sie empfiehlt das Screening weiterhin, weil «aus heutiger Sicht die Vorteile der Screening-Programme die Nachteile überwiegen». Die Krebsliga macht bei Screening-Programmen in mehreren Kantonen aktiv mit.

Quelle: Infosperber
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Frage des Gesundheitsökonomen und Anreizspezialisten:
Wer soll darüber entscheiden, ob Screening-Programme durchgeführt und staatlich bezahlt werden?

  • Präventivmedizinier, welche Nutzen und Wirkung medizinischer Massnahmen (inkl. Prävention) wissenschaftlich untersuchen
  • Onkologen, Gynäkologen, Radiologen, welche am Screening verdienen
  • ???

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