Wem nützt das Mammographie-Screening?
Das Swiss Medical Board* kommt in einer neuen Studie zum Schluss, dass langjährige, systematische Röntgenuntersuchungen der weiblichen Brust den Frauen mehr schaden als nutzen und deshalb nicht empfohlen werden können. Laufende Programme, wie sie in den meisten Kantonen existieren oder vor der Einführung stehen, seien deshalb nicht dauerhaft fortzuführen. – Damit hat eine langjährige Debatte neuen Aufwind bekommen, in welcher sich Befürworter und Gegner unversöhnlich gegenüber stehen. Ökonomisch gesehen ist dabei nicht nur der Kosten-Nutzen-Vergleich des Screenings interessant, sondern auch wer dafür und wer dagegen ist.
Aufgeschreckt vom jüngsten Verdikt des Swiss Medical Board (SMB) geben sich die Screening-Befürworter in den Medien überrascht bis entrüstet. Dies war auch schon 2007 so, als ich aus Anlass der bevorstehenden Einführung des Screenings im Kanton St.Gallen einen Zeitungsartikel publizierte, der sich skeptisch zum Nutzen solcher Reihenuntersuchungen äusserte. Damals wurde meine Analyse in hochgradig unqualifizierter Weise zerrissen. Heute kommt das höchste Fachgremium der Schweiz zum genau selben Ergebnis. Kurz gefasst, geht es um folgende Punkte:
Geringer Nutzen
Von tausend Frauen die am Screening-Programm während 10 Jahren teilnehmen, werden vier Frauen ohne Nutzen behandelt, und nur eine Frau von den tausend Frauen stirbt weniger an Brustkrebs. Zu bedenken ist zudem, dass es bei tausend untersuchten Frauen zu rund 100 bis 150 Fehlbefunden kommt, welche nicht nur eine grosse psychische Belastung darstellen, sondern auch zu weiteren Abklärungen und teilweise unnötigen Behandlungen führen.
Bezieht man die negativen Folgen von Überbehandlung und Strahlenbelastung mit ein, ist der Gesamtnutzen des Screenings insgesamt sehr gering. So kommt das Fachgremium denn auch zum Schluss, dass auf eine einzelne Frau bezogen, eine minimale positive Wirkung von 0.00327 geretteten Lebensjahren resultiert. (SMB, S. 30)
Die gute Nachricht ist aber folgende: In allen industrialisierten Ländern sinkt die Mortalitätsrate (Sterberisiko) beim weiblichen Brustkrebs aufgrund neuer Medikamente, besserer Therapieverfahren und chirurgischer Techniken, und zwar ganz unabhängig vom Screening. (SMB, S. 19) Auch in der Schweiz ist dieser Trend zu beobachten. Eine sinkende Mortalität war in der Westschweiz schon in den Jahren 1990 bis 1999 zu beobachten, obwohl Mammographie-Screening-Programme in den Kantonen Genf, Waadt und Wallis erst im Jahr 1999 implementiert wurden.
Schlechtes Verhältnis von Kosten und Nutzen
Das Fachgremium beziffert in seiner Studie die Kosten des Screenings auf 810 CHF pro Frau (inkl. zusätzlicher Behandlungskosten). Setzt man diese Kosten ins Verhältnis zum Nutzen, ergibt sich trotz tiefer individueller Kosten ein “ungünstiges Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis, weil auch nur eine sehr geringe Wirkung erzielt werden kann.” (SMB, S. 34)
Irreführende Kommunikation
Die Informationen zu den Brustkrebsrisiken und zu den Vorteilen des Screenings werden systematisch zugunsten des Screenings verzerrt.
Von 1000 Frauen, die 10 Jahre lang am Screening teilnehmen sterben 4 an Brustkrebs, während ohne Screening 5 Frauen sterben. Deshalb wirbt die Screening-Industrie mit einer Reduktion des Mortalitätsrisikos von 20% für die Teilnahme. Fälschlicherweise meinen viele Frauen dann, das Screening bewahre 20 von 100 Frauen vor dem Krebstod.
“Ausschlaggebend für eine evidenzbasierte Entscheidung ist jedoch nicht die relative Risikoreduktion, sondern die absolute Risikoreduktion, die viel niedriger liegt. Dieser Sachverhalt ist nicht nur für die betroffenen Frauen verwirrend und irreführend, sondern wird offensichtlich auch von vielen Fachpersonen nicht verstanden.” (SMB, S. 40)
Warum? Bei der Entscheidung für oder gegen eine Massnahme muss das grundsätzliche Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung berücksichtigt werden. Ist das Risiko einer Erkrankung sehr gering, hat auch die Reduktion dieses Risikos einen geringen Nutzen.
Genau dies ist beim Mammographie-Screening der Fall: Gemäss internationalen Studien ist das absolute Risiko für Frauen über 50 an Brustkrebs zu sterben 0.57% ohne Screening und 0.41% mit Screening. Somit verbessert sich das Risiko aufgrund des Screenings lediglich um 0.16%-Punkte (vgl. SMB, S. 14).
Das bedeutet, dass lediglich 1 bis 2 von 1000 während 10 Jahren geröntgten Frauen einen echten Nutzen haben, die übrigen haben nichts davon. Sie tragen aber vielleicht Schäden durch unnötige Strahlenbelastung und durch zusätzliche Behandlungen davon.
Wie steht es um die Ethik?
Aufgrund der geringen Wirksamkeit und der gleichzeitig bedeutsamen unerwünschten Nebenwirkungen, kommt das Fachgremium zu folgendem Schluss: „Auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens sprechen die ethischen Abwägungen eher gegen als für ein systematisches Mammographie-Screening.“ (S. 41)
Wenn schon, ist Qualität gefordert
Die Qualität des Screenings hängt von der Qualität der Analyse der Röntgenbilder ab. Die Bilder werden immer durch zwei unabhängige Leser begutachtet. Im Zweifelsfall durch einen dritten Leser. Gemäss den EU-Qualitätsstandards muss ein Leser pro Jahr mindestens 5000 Bilder begutachten. Deshalb verfügen etwa die Niederlande über eine zentrale Stelle zur Begutachtung.
In der Schweiz gibt es bislang keine klaren Standards. Und auch keine Zahlen zur Lesehäufigkeit. Dennoch lässt sich abschätzen, dass bei uns manche Leser nicht einmal 500 Bilder pro Jahr analysieren. Die Präsidentin des Patientenstellen-Dachverbands, Erika Ziltener, spricht deshalb von einem “Jekami unter den Radiologen und Kantonen“. (Quelle: Infosperber) Für manche Radiologen ergibt sich hier offenbar eine interessante Möglichkeit zum Nebenverdienst – allerdings zulasten der Qualität.
Wann bringt Früherkennung etwas?
Die so genannte Früherkennung hat einen guten Ruf in der Bevölkerung. Doch wann und wem bringt sie etwas? Dieser Frage geht ein neuer, sehenswerter Bericht im Wissenschaftsmagazin Nano nach (Dauer 6 Minuten). Der deutsche Onkologe Prof. Wolf Dieter Ludwig vom Helios Klinikum Berlin kommt darin zum Schluss, dass nur bei Personen mit erblicher Vorbelastung, bei Personen die beruflich belastenden Stoffen ausgesetzt sind und bei Personen mit bestimmten Vorerkrankungen durch Früherkennung ein zusätzlicher Nutzen entsteht.
Früherkennung von Krebs ist also keineswegs sinnlos, nur bringen flächendeckende Reihenuntersuchungen in vielen Fällen mehr Schaden als Nutzen. Diese Einsicht setzt sich allmählich ausserhalb der Schweiz durch. Wann auch bei uns?
Wer ist dafür und wer dagegen?
In den letzten 20 Jahren hat sich eine ganze Screening-Industrie gebildet. Betrachtet man die Reaktionen auf die SMB-Studie in den Medien wird offensichtlich, dass sich praktisch alle involvierten Fachspezialisten (v.a. Onkologen und Radiologen) für das Screening aussprechen. Die wenigen kritischen Stimmen stammen meist von Personen, die selbst kein finanzielles Interesse am Screening haben.
Bislang war es einfach, die Kritiker als “fachlich unqualifiziert” zu diskreditieren. Mit der neuen Studie des Swiss Medical Board dürfte dies nicht mehr so einfach sein. Die Diskussion ist neu lanciert.
*Ein wissenschaftliches Fachgremium, das von der Ärzteschaft FMH, der Schweiz. Akademie der Wissenschaften SAMW und der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK getragen wird.
PS: Bereits im Jahre 2002 wies der Publizist und Konsumentenschützer Urs P. Gasche in einem NZZaS Artikel auf diese Problematik hin.