Wer weniger verdichtet wohnt, verursacht weniger Verkehr
Die fortschreitende Zersiedelung unseres Landes, einhergehend mit stetig anschwellenden Verkehrsströmen und Staus, beruht auf einer Entmischung der drei Lebensfunktionen Wohnen, Arbeit und Freizeit. Dieser Prozess wird einerseits durch zu tiefe Preise geschürt, welche die effektiven Kosten der Mobilität auf Strasse und Schiene nicht decken und andererseits durch den laufenden Ausbau der Verkehrskapazitäten sowie durch grosszügige Einzonungen. – Der Ausbreitung des Agglomerationsbreis und dem täglichen Verkehrskollaps kann von drei Seiten her entgegen getreten werden: Durch striktere Raumplanung, durch verursachergerechte Mobilitätspreise und durch neue Formen des Bauens. Allerdings gibt es kein Allheilmittel und mit Nebenwirkungen ist zu rechnen.
Es gab Zeiten, da wohnten und arbeiteten die meisten Menschen am selben Ort, an dem sie gleich auch noch die spärliche Freizeit verbrachten. Doch der wirtschaftliche Aufschwung seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts brachte den Menschen nicht nur mehr Wohlstand, sondern auch erheblich mehr Freizeit, mehr und günstige Mobilität sowie den Wunsch nach einem Häuschen im Grünen. Dies sind die Zutaten, welche zur so genannten Entmischung der Lebensfunktionen Wohnen, Arbeit und Freizeit geführt haben.
Im Ergebnis wohnen heute rund achtzig Prozent der Schweizer in einer Agglomeration. 90% arbeiten ausser Haus, wovon 55% bzw. 2 Millionen täglich ein privates Motorfahrzeug benutzen. Rund 1.1 Mio. Personen fahren mit dem ÖV zur Arbeit (29%), knapp 600ʼ000 Personen gehen zu Fuss oder fahren mit dem Velo (16%). Die Arbeitspendler benötigen für den Arbeitsweg (ein Hinweg) im Jahr 2011 im landesweiten Durchschnitt 30 Minuten, im Jahr 2000 waren es noch 23 Minuten. [Quelle: BFS, 30.05.13].
Dies hat niemand so gewollt oder geplant. Es ist das Ergebnis von tausenden Einzelentscheiden auf nationaler, kantonaler, kommunaler und persönlicher Ebene. Will man der Zersiedelung und dem täglichen Verkehrskollaps entgegen treten, gibt es aber Möglichkeiten.
Obwohl hohe Bodenpreise einen grundsätzlichen Schutz gegen ineffiziente Nutzung kostbaren Landes darstellen, braucht es aufgrund der vielfältigen negativen Externalitäten der Bautätigkeit eine griffige Raumplanung. Die Hoffnungen richten sich nun auf das neue Raumplanungsgesetz, welches im März 2013 vom Volk angenommen wurde und dem Wildwuchs in manchen Kantonen und Gemeinden Einhalt gebieten soll (Beispiel: Wildwuchs in China).
Als zweiter Hebel ist bei den Preisen der Mobilität anzusetzen. Mobilität ist heute deutlich zu billig und trägt ihre Kosten nicht. Der motorisierte Privatverkehr verursacht negative Externalitäten in Milliardenhöhe, die von der Allgemeinheit getragen werden. Andererseits decken die Billettpreise im öffentlichen Verkehr die Kosten von Bus und Bahn in aller Regel ebenfalls nicht (vgl. meinen NZZ-Artikel von 2005). Ein kostendeckendes Generalabonnement der SBB müsste gegen 10‘000 Franken pro Jahr kosten.
Die alte Forderung nach „Kostenwahrheit im Verkehr“ ist immer noch gültig und findet allmählich in Form des „mobility pricing“ Eingang in die politische Debatte. Hierbei richten sich die Preise der Mobilität nach der Art des Verkehrsmittels, dem Ort und der Zeit der Nutzung sowie den verursachten Externalitäten. Das Instrument ist also nachfrageorientiert und sollte verkehrsträgerübergreifend angewandt werden, um Ausweichverhalten zu vermeiden.
Allerdings ist Vorsicht geboten.
Wir haben es nämlich mit einem komplexen System von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr zu tun, in welchem vielfache Wirkungszusammenhänge bestehen. Zudem ist eine Vielzahl von Akteuren involviert und es besteht die Gefahr unerwarteter Entwicklungen. Denn die Rückkopplungen innerhalb komplexer Systeme sind stets schwierig zu antizipieren. Dabei lässt sich nicht immer eindeutig feststellen, was Ursache und was Wirkung ist. Manchmal lassen sich nur Wechselwirkungen identifizieren, etwa jene zwischen Siedlungstätigkeit, Ausbau der Verkehrswege und Pendlerströmen.
Vermutlich gilt im Falle des Verkehrs aber oftmals das Prinzip, wonach das Angebot die Nachfrage schafft. Sobald ein Nadelöhr beseitigt ist, etwa durch eine neue Tunnelröhre, wird zusätzlicher Verkehr angezogen. Flaschenhälse lassen sich im Strassenverkehr eben nicht beheben, sondern nur verlagern.
Das Ansetzen bei einzelnen Brennpunkten, ohne Berücksichtigung der Wechselwirkungen, ist ohnehin problematisch. So wird beispielsweise das verdichtete Bauen gegenwärtig als Massnahme gegen Landverschleiss propagiert. Einerseits sollen in neuen Siedlungsgebieten kaum mehr Einfamilienhäuser entstehen, sondern Mehrfamilienhäuser mit vergleichsweise wenig Umgebungsland (Foto links). Andererseits geht es auch um die innere Verdichtung der Städte und Agglomerationen, indem bestehende Objekte durch höhere Gebäude mit geringeren Abständen ersetzt werden (Foto oben).
Dies mag aus Sicht der Landnutzung effizient sein, führt aber gemäss neuen Studien interessanterweise zu mehr Verkehr. So stellt Vincent Kaufmann, Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der ETH Lausanne fest (vgl. Interview in der NZZ):
Wir haben eine Untersuchung gemacht, bei der sich zeigte, dass Menschen mit Auto und Haus ökologisch nicht schlechter, zum Teil sogar besser abschneiden als Stadtbewohner. Wir nannten das den Grill-Effekt: Wer weniger dicht wohnt, bleibt am Wochenende eher zu Hause. Und das ist in einer Zeit von Bedeutung, in welcher der Freizeitverkehr relativ den grössten Teil der Mobilität ausmacht.
Ca. 40% der Tagesdistanz wird aufgrund von Freizeitaktivitäten zurück gelegt, während nur ca. 25% auf den Arbeitsweg entfallen; siehe Graphik unten aus dem NZZ-Artikel.
Dieser Befund ist immerhin tröstlich für alle Einfamilienhausbesitzer, welche aufgrund der nötigen Gartenpflege ohnehin keine Zeit finden, sich in den Verkehr auf Strasse und Schiene zu stürzen. Sie werden mit einer Wurst auf dem eigenen Grill belohnt. Über die resultierenden Emissionen in Form von Rauch und Feinstaub sollten sie sich wirklich keine Sorgen machen.