2.09.2012

Bündner Vergangenheitsbewältigung

Die fortschreitende Überbauung des Alpenraums ist keine nachhaltige Strategie, selbst wenn sie Landbesitzern und Bauunternehmern über Jahrzehnte hinweg ansehnliche Gewinne beschert hat. Denn sie steht in unübersehbarem Konflikt mit einem Tourismus, der zwar bauliche Infrastrukturen wie Unterkünften, Strassen und Bahnen benötigt, aber letztlich auch von einem möglichst intakten Naturraum lebt.

Die Einsicht, dass in Graubünden die Gratwanderung zwischen Landschaftsschutz und Wohnungsbau vielerorts in Richtung der Baulobby gekippt ist, setzt sich allmählich durch. Die Bündner Gemeinden und der Kanton haben bezüglich Zweitwohnungsbau viel zu lange zugeschaut, obwohl das Problem erkannt war. – Zu dieser späten Einsicht gelangt Stefan Engler, ehemaliger Chef des Baudepartements. Andere Bündner Politiker schlagen nun in die selbe Kerbe.

Als Reaktion auf die vom Volk im März 2012 angenommene Zweitwohnungsinitiative war sogleich von einer Verhinderung der Entwicklung in den Alpenkantonen die Rede. Das anfängliche Wehklagen ist nun in Vergangenheitsbewältigung umgeschlagen. CVP-Ständerat Stefan Engler, blickt ungewohnt selbstkritisch auf seine Zeit als Bündner Baudirektor zurück und stellt fest, dass das föderalistische System versagt habe und man den Gemeinden viel zu lange vertraut hat. Das Mass sei verloren gegangen.

Ins selbe Horn stossen auch zwei Bündner Parteipräsidenten: Der SP-Präsident Jon Pult («Wir weisen schon seit Jahrzehnten darauf hin, dass der Kanton den Zweitwohnungsbau regulieren muss.») sowie Heinz Brand, SVP-Präsident und Nationalrat («Die Regierung hat den Auswüchsen in gewissen Regionen zu lange zugeschaut. Sie hätte Missstände sofort beheben müssen.») Quelle

Trotz einigem Widerstand bezüglich der Umsetzung, zeigt die Zweitwohnungsinitiative nun auch ihre gute Seite. Denn sie hilft den Kantonen, sich gegen eine Entwicklung zu wehren, die die Politik angeblich nicht wollte, aber offensichtlich zu schwach war, um sie zu verhindern. Nach eigenen Worten hatte Engler als Baudirektor Graubündens nämlich «zu lange auf die Selbstregulierungs- und Selbstheilungskräfte der Gemeinden vertraut.»

Dieses Phänomen ist nicht neu. Denn Selbstregulierung ist ein notorisch schwieriges Unterfangen. Sie verläuft fast immer zäh und langsam und zeigt nicht immer die gewünschten Wirkungen. Beispielhaft sind etwa die Selbstregulierungsbemühungen der Finanzinstitute in Sachen Schwarzgeld.

Der Grund ist einfach. Wenn kollektive und individuelle Rationalität divergieren, gewinnt oft letztere. Jedenfalls so lange das Kollektiv nicht mit klaren und durchsetzbaren Regeln eingreift. Für viele Bürger – namentlich Landbesitzer, Bauunternehmer und Hoteliers, aber auch Gemeindepräsidenten und Steuerzahler – war die teilweise überbordende Bautätigkeit im Sinne des Eigeninteresses rational, selbst wenn alle wussten, dass sie aus kollektiver und langfristiger Sicht unvernünftig, weil nicht nachhaltig ist.

Ökonomisch gesehen stellt die bauliche Tätigkeit nicht nur eine Nutzung privater Güter, sondern auch  der Gemeinschaftsressource „intaktes Landschaftsbild“ dar. Jede Baute zehrt ein wenig davon. Jede Baute verursacht einen externen Effekt, der je nach Betrachter positiv sein kann –  beispielsweise beim Eifelturm – oder negativ. Letzterer entsteht oft nicht nur durch einzelne Bauten, sondern durch die Bautätigkeit insgesamt, was im Mittelland als Zersiedelung der Schweiz gebrandmarkt wird und 2011 zur Lancierung des „Raumkonzepts Schweiz“ geführt hat.

Für Architekturkritiker, wie Benedikt Loderer, führt die anspruchslose Gebrauchsarchitektur rund um die sich ausbreitenden Städte zu einem gesichtslosen Agglomerationsbrei, der allmählich unser Land überzieht. Etwas profaner spricht der Ökonom hier von negativen externen Effekten.

Und diese spielen in Tourismusgebieten eine besondere Rolle, weil sie nicht nur das ästhetische Empfinden der Einheimischen, sondern auch der zahlenden Gäste betreffen. In einem Engadin mit zugebautem Talboden will schliesslich kaum ein Tourist seine Ferien verbringen. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Gemeinschaftsressource „intaktes Landschaftsbild“ geschützt wird, bevor sie der Tragödie der Allmende zum Opfer fällt.

Wie ich hier bereits angedeutet habe, bestünde die ökonomisch saubere Lösung darin, im Sinne einer Pigou-Steuer auf jeder Baute eine Abgabe in Höhe der negativen Externalität zu erheben. Dies würde zu einer optimalen Besiedelung führen. Leider steht dem entgegen, dass diese Abgabe schon vor Jahrzehnten hätte eingeführt werden müssen, um ein Optimum zu gewährleisten und ihre korrekte Höhe schwierig zu bemessen ist. Zudem wären politische Widerstände sicher.

Somit bleibt nur die Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative. Wie die erwähnten Einsichten der Bündner Politiker zeigen, ist das anfängliche Entsetzen nach wenigen Monaten in ein „culpa mia“ umgeschlagen. Die nächste Phase eines konstruktiven, statt defensiven, Umgangs mit den neuen Gegebenheiten beginnt hoffentlich möglichst rasch. Der Wandel von quantitativem (Bau)Wachstum in eine qualitative touristische Entwicklung, die nicht von ihren Grundlagen zehrt, muss in den Köpfen beginnen. Vielleicht ist sie sogar schon unterwegs.

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