20.05.2012

Interview: Managed Care

Am 17. Juni 2012 wird über die Managed-Care-Vorlage abgestimmt. Im Vorfeld wächst der Widerstand. Aufgrund eines geschickten Lobbyings bröckelt der ehemals breite politische Konsens. Befürworter werden zu Gegnern einer Vorlage an der das Parlament 8 Jahre gearbeitet hat. Ein klares JA an der Urne bedeutet einen kleinen, aber wichtigen Schritt zur Qualitätsförderung, zur Kostendämpfung und zur Stärkung der Hausarztmedizin. (Eine gekürzte Fassung dieses Interviews ist heute in der Sonntagszeitung erschienen.)

Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist ungebrochen. Die Kosten steigen deshalb jährlich um Milliarden von Franken. Ihr Urteil?

Der Kostenanstieg ist an sich kein Problem. Die Schweiz kann sich das leisten. Die Frage ist eher, welchen zusätzlichen Nutzen wir für das zusätzliche Geld erhalten. Werden wir trotz oder wegen der steigenden Gesundheitsausgaben immer älter? Könnte man das Geld nicht sinnvoller ausgeben, etwa für Bildung? Entspricht die Entwicklung der Ausgaben überhaupt den Wünschen der Bevölkerung?

Über diese Fragen braucht es eine breite Debatte. Und wissenschaftliche Forschung. Denn es ist z.B. nicht klar, wie stark der Gesundheitszustand der Bevölkerung vom Umfang der medizinischen Versorgung und zusätzliches Geld überhaupt beeinflusst werden kann. Es gibt Faktoren, wie Gene, Umwelt und Verhalten, welche auf die Gesundheit einen weitaus stärkeren Einfluss haben.

Dann sind also eigentlich keine Massnahmen zur Kostendämpfung nötig?

Doch. Denn jeder Gesundheitsfranken fehlt an anderer Stelle. Wir brauchen also nicht unbedingt ein kleineres, aber ein effizienteres Gesundheitssystem.

Können Ärztenetzwerke dabei helfen?

Ja. Durch die finanzielle Mitverantwortung hat der Arzt ein Interesse daran, dass seine Patienten gesund werden und bleiben. Es gibt dann keinen Anreiz, medizinisch unnötige Behandlungen durchzuführen oder überflüssige Medikamente zu verschreiben – selbst wenn ein Patient dies wünscht. Zudem begleitet ein Netzwerkarzt die Patientin durchs System und vermeidet Doppelspurigkeiten. Dies dämpft nicht nur die Kosten, sondern ist auch im Interesse der Patienten, wenn etwa die Strahlenbelastung durch unnötiges Röntgen wegfällt.

Dennoch wächst der Widerstand gegen die Managed Care Vorlage massiv. Neben SP und BDP hat sich nun auch die SVP dagegen ausgesprochen. Ist die Vorlage zu wenig ausgereift?

Nein. Es geht um Politik und Geld. Einige Gegner sind angeblich nicht gegen Ärztenetzwerke, sondern gegen die Vorlage, weil diese durch einen differenzierten Selbstbehalt Anreize zugunsten der Netzwerke schaffen will. Das sei unsozial heisst es. Hier wird die sozialpolitische Karte gespielt, um eine unliebsame Vorlage zu bodigen.

Andere Gegner sind Opfer des erfolgreichen Lobbying der Ärzteschaft. Es gibt Ärztegruppen, die unter Managed Care Einkommenseinbussen befürchten. Deshalb setzten sie nun alle Hebel in Bewegung, damit die Vorlage nicht durchkommt.

Welche Gruppen meinen Sie?

Es sind vor allem Spezialisten, welche gegen die Managed-Care-Vorlage Stimmung machen, während sich die Hausärzte mehrheitlich dafür aussprechen. Die Spezialärzte befürchten Einkommenseinbussen, weil sie künftig vermehrt auf Zuweisungen von Hausärzten angewiesen wären. So wird unter Managed Care die Stellung der Hausärzte gestärkt, während diejenigen der Spezialisten tendenziell geschwächt wird, jedenfalls solange sie nicht in einem Netzwerk mitmachen.

Die Gegner der Vorlage kritisieren vor allem die Einschränkung der  freien Arztwahl.

Das ist ein vorgeschobenes Argument, denn auch unter Managed Care haben die Patienten noch immer die Möglichkeit ihren Arzt frei zu wählen. Der gewählte Hausarzt ist einfach in einem Ärztenetz. Innerhalb des Netzes kann man jederzeit wechseln und das Netz nach einem Jahr. Die Ärzten wissen aber, dass dieses Argument Angst macht. Deshalb werben sie damit am stärksten, obwohl sie wissen, dass kaum ein Patient seinen Arzt täglich neu wählt. Die meisten Arzt-Patient-Verhältnisse beruhen auf Vertrauen, dass sich über viele Jahre aufgebaut hat.

Dann ist die freie Arztwahl eine Illusion?

Ja, denn in unserem Gesundheitssystem fehlt die Transparenz um einen Arzt nach bestimmten Qualitätsmerkmalen zu suchen. Die meisten Patienten verlassen sich auf Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis. Und im Spital kann man ohne Zusatzversicherung die Ärztin auch nicht wählen – das stört niemanden. Zudem ist es reine Gewöhnungssache. Beispielsweise Holländer, die in die Schweiz kommen sind überrascht, dass sie zwar ihren Arzt frei wählen dürfen, dafür aber nicht entscheiden können in welche Schule ihr Kind geht. Für Holländer ist die Schulwahl viel wichtiger, weil sie sich daran gewöhnt sind.

Zudem sprechen die Ärzte von einer Verschlechterung der Behandlungsqualität

Die Daten der schon seit vielen Jahren in der Schweiz bestehenden Netzwerke zeigen, dass die Behandlungsqualität und die Patientensicherheit keinesfalls schlechter sind. Wer sich übrigens vertraglich länger an ein Netzwerk bindet geniesst den Vorteil, dass ihm vermehrt auch präventive Leistungen zugute kommen. Ein Netzwerk mit Budgetmitverantwortung hat nämlich ein Interesse, dass der Versicherte auch langfristig gesund bleibt, weil sonst Kosten entstehen.

Inwiefern erhöhen Ärztenetze die Patientensicherheit?

Die Ärzte im Netzwerk haben ein gemeinsames Interesse an hoher Qualität, tauschen sich regelmässig aus und diskutieren Probleme oder unsichere Diagnosen. Belastende Mehrfachbehandlungen und unnötige Konsultationen fallen weg. Heute können Patienten zudem von verschiedenen Ärzten verschriebene Medikamente gleichzeitig einnehmen. Das kann lebensgefährlich sein, wird aber in Netzwerken vermieden, weil es einen federführenden Mediziner gibt, der die Übersicht hat.

Ärzte kritisieren schliesslich auch die Budgetmitverantwortung. Was steckt dahinter?

Hier scheint mir eine Art von Urangst mancher Ärzte zu liegen. Viele niedergelassene Ärzte sehen sich selbst als freie Unternehmer – sie treten sogar manchmal in Streik. Dabei vergessen sie gerne, dass sie von einem hochgradig regulierten staatlichen System profitieren und weit von einem Wettbewerbsmarkt entfernt sind.

Inwiefern?

Die Tarife sind reguliert, sodass es keinen Preiskampf gibt. Ebenso reguliert ist der Marktzutritt für neue Ärzte, was unliebsame Konkurrenten fern hält. Zudem können alle Ärzte mit Praxisbewilligung zulasten der allgemeinen Grundversicherung abrechnen. Eine solche Abnahmegarantie gibt es in der freien Wirtschaft nicht. Budgetmitverantwortung bedeutet hingegen ein kleines Stück Unternehmertum. Da ist die heutige Situation viel bequemer.

Aber schafft die Budgetmitverantwortung nicht auch Anreize, künftig teure Behandlungen nicht mehr zu verschreiben?

Nur wenn sie unnötig sind. Wenn eine Methode wirksam ist und damit die Chance besteht, dass der Patient gesund wird, ist die teurere Behandlung im Endeffekt gar kostengünstiger.

Was geschieht, wenn die Managed Care Vorlage am 17. Juni abgelehnt wird?

Dann ist das ein Beleg dafür, dass alle vom heutigen ineffizienten System profitieren – zulasten weiter steigender Prämien. Das wäre eine weitere grosse Blamage unserer Gesundheitspolitik. Die Vorlage war 8 Jahre lang im Parlament. Sie ist kein grosser Wurf, aber ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Wenn selbst dieser Schritt scheitern sollte, sehe ich für grössere Reformen – wie etwa die Abschaffung des Vertragszwanges – schwarz.

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Kommentare

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Guten Abend Herr Slembeck

Vorweg – interessantes Interview!
Was halten Sie von der folgenden Überlegung bezüglich der Budgetmitverantwortung:
Mit Hilfe der Budgetmitverantwortung gelingt es ja, die beiden gegensätzlichen Anreizeffekte (Leistungsausweitung durch die Einzelleistungsvergütung & Leistungszurückhaltung durch die Budgetpflicht) zu neutralisieren und somit einen Versorgungsausgleich zu erhalten. So weit, so gut.
Gelänge es uns in der Schweiz die Vergütung über den Einzelleistungstarif (TARMED) “endlich” durch eine Kopfpauschale “zu ersetzen”, würde das Konzept der Budgetmitverantwortung quasi hinfällig. Vor allem dann, wenn wir davon ausgehen, dass das Budget ja sowieso bereits mit der Capitation-Methode berechnet wurde.

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