11.02.2012

Wer hat Angst vor Asien?

Kleine Nachlese zum WEF 2012

Am World Economic Forum (WEF) in Davos trafen sich im Januar viele wichtige Leute, um über viele wichtige Dinge zu sprechen. Wie jedes Jahr kommt dabei nicht wirklich was heraus. Jedenfalls dringt es nicht nach aussen, denn schliesslich ist es ein Networking-Event der „global Leaders“. Immerhin hat das Schweizer Fernsehen zwei Personen vors Mikrofon bekommen, die der Moderator als die „intelligentesten Denker am WEF 2012“ bezeichnete. Was Niall Ferguson und Kishore Mahbubani über den Abstieg des Westens und den Aufstieg Asiens sagten, hat mich eher irritiert und einiges scheint mir fragwürdig – jedenfalls ökonomisch gesehen.

Niall Ferguson ist Geschichtsprofessor an der Harvard University. Die Times hat ihm den Titel als „brillantester Historiker seiner Generation“ verliehen. Im Interview listet er folgende Faktoren auf, welche den wirtschaftlichen und politischen Erfolg der USA und des Westens ermöglicht haben:

  • Wettbewerb und freie Märkte
  • Wissenschaft und Bildung
  • Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
  • Medizinischer Fortschritt
  • Konsumgesellschaft
  • protestantische Arbeitsethik

«Diese Faktoren haben uns stark gemacht, doch wir vernachlässigen sie, darüber mache ich mir Sorgen. … Es gibt nämlich degenerative und dekadente Entwicklungen in Europa. … Die protestantische Arbeitsethik hat sich  aus Europa verabschiedet. Heute arbeitet man am härtesten nicht in Europa, sondern in Asien. … Wir müssen wieder wettbewerbsfähiger werden, wir müssen alle wieder härter arbeiten», sagt Ferguson im Interview.

Obwohl die Bedeutung der genannten Faktoren sehr einleuchtend ist, scheint mir der Fokus auf die abhanden gekommene Arbeitsethik als wichtigen Erklärungsgrund für den vermeintlichen Abstieg des Westens etwas abstrus.

Denn erstens ist es ja gerade ein Ergebnis des wirtschaftlichen Erfolgs, dass wir uns mehr Freizeit leisten können. Sollen wir härter arbeiten, um jeden Tag 5 Schnitzel essen zu können oder 3 Autos zu fahren?

Selbstredend gibt es in Europa Länder und Industrien, die aufgrund gewerkschaftlichen Drucks zu hohe Löhne und zu kurze Arbeitszeiten aufweisen und deshalb an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst haben – etwa in Grossbritannien, Frankreich und Italien.

Es ist andererseits aber auch klar, dass in materiell weitgehend gesättigten post-industriellen Gesellschaften der persönliche Arbeitseinsatz einen anderen Stellenwert hat, als in aufstrebenden Schwellenländern, wo noch nicht jeder einen Fernseher und ein Auto hat. Diesen Sättigungseffekt werden die Asiaten eines Tages auch erfahren.

Zweitens bin ich nicht überzeugt, dass die Asiaten tatsächlich „härter“ arbeiten. Wir haben kürzere Arbeitszeiten und Arbeitsplätze, die im Durchschnitt physisch weniger anstrengend sind. Dafür sind unsere Jobs oft psychisch belastender und auch Pendler haben einen langen Arbeitstag.

Drittens ist unser Humankapital aufgrund der (Aus)Bildung auf höherem Niveau. Zusammen mit einer höheren Kapitalausstattung führt dies zu einer weitaus höheren Produktivität – und allein diese ist für den ökonomischen Erfolg entscheidend. Wir müssen also gar nicht „härter“ Arbeiten, um mit den Asiaten Schritt zu halten. Es reicht, wenn wir unsere Arbeitsmärkte flexibel halten, clever arbeiten, produktiv bleiben und unsere Produkte innovativ sind.

Ökonomische Laien sehen die Heerscharen hochmotivierter, billiger Arbeitskräfte Asiens gerne als Bedrohung. Diese Vorstellung ist in der industriellen Welt verhaftet. In einer postmodernen Welt zählen Unternehmertum, Innovationskraft, Vernetzung und Managementfähigkeiten. Deshalb scheint mir die Angst vor Asien weitgehend unbegründet. Das wirtschaftliche Aufholen bedeutet nicht nur bessere Lebensstandards für Millionen von Menschen, sondern auch zusätzliche Absatzmärkte für Europa.

Wettbewerb

Vermutlich wird sich der Wettbewerb in gewissen Bereichen verschärfen. Dies wird auch im Interview erwähnt. Bei industrieller Massenware kann und wird Europa kaum mithalten können. Doch wird es immer Bereiche geben, in denen wir einen komparativen Vorteil haben. Meist geht es dabei um stark spezialisierte Produkte (z.B. Kompressoren oder Mess- und Präzisionsinstrumente aus der Schweiz) oder um ein „Upgrade“ traditioneller Waren. So wird etwa aus einem 10-Euro-Shirt aus Indien ein „italienisches“ 250-Euro-Shirt von Gucci für den globalen, auch den asiatischen Premium-Markt. Nestlé hat die Schweiz dank der Aluminiumkapsel zu einem der (wertmässig) grössten Kaffeeexporteure der Welt gemacht.

Seit einigen Jahren rollt die Nespresso-Welle auch über die USA und Australien. Und mit roter Brause haben die Österreicher rund um den Globus so viel Geld verdient, dass sie sich gleich zwei erfolgreiche Formel-1 Rennställe leisten können.

Ohne westliche Qualität, Innovation und „Upgrades“ wäre die Welt schon längst von billigen asiatischen Autos und Uhren überschwemmt worden. In beiden Industrien gab es schwere Krisen. Doch wer Wert auf Qualität legt und es sich leisten kann, kauft eine Schweizer Uhr und fährt ein deutsches Auto. Gerade auch in Asien.

Déjà-vu

Mich erinnert die gegenwärtig geschürte „Angst vor Asien“ und der befürchtete „Abstieg des Westens“ an die 1970er und 1980er Jahre. Damals war die Angst vor Japan weit verbreitet. Japan war eine aufstrebende Wirtschaftsnation, die in wenigen Jahren die Weltmärkte dominieren würde. Autos, Uhren, Haushaltsgeräte, Consumer Electronics etc. waren immer häufiger Made in Japan und würden – gemäss den damaligen Experten – früher oder später nur noch von dort kommen.

Weit gefehlt. Japan steckt seit über einer Dekade in einer Wirtschaftskrise. Schaut man auf die Staatsverschuldung und die Alterung der Bevölkerung, gleicht das Land einem finanziellen Pulverfass.

Auf China und Indien werden in den nächsten Dekaden enorme Probleme in den Bereichen Umwelt, soziale Sicherheit und öffentliche Finanzen zukommen. Nur weil diese Länder noch wesentlich grösser sind, heisst dies nicht, dass der wirtschaftliche Aufstieg dieser Länder gleichzeitig den Abstieg Europas oder der USA bedeuten müsste.

Mit der wirtschaftlichen Entwicklung werden zudem die Separationskräfte an Bedeutung gewinnen. China und Indien bestehen aus unzähligen Bevölkerungsgruppen, die mit steigendem Wohlstand vermehrt nach Freiheit und Eigenständigkeit streben. Es scheint mir deshalb absehbar, dass diese Mega-Nationen früher oder später in kleinere Gebiete, vielleicht in neue Staaten, zerfallen werden — ähnlich wie wir es bei der einst so mächtigen Sowjetunion gesehen haben.

Abberation?

Seine eigene Theorie hat Kishore Mahbubani, Politikprofessor und „Asienexperte“ an der Uni Singapur. Er meint im Interview mit SF unter anderem: «Der Westen und die USA waren nur in den letzten 200 Jahren wichtig. In den 2000 Jahren davor, bis 1820, waren es China und Indien. Die historischen Abweichungen kommen zu ihrem natürlichen Ende. Deshalb ist die Bewegung (der Abstieg des Westens) normal.»

In dieser Lesart ist die ökonomische und politische Dominanz des Westens in den letzten 200 Jahren nur eine Aberration, also eine vorübergehende Verirrung, weg vom Normalzustand.

Das ist starker Tobak. Was bedeutet „Normalzustand“? Sind Höhlenbewohner und Steinzeitmenschen der Normalzustand, weil sie unseren Planeten für einige 10‘000 Jahre dominierten? Oder die Saurier, die noch länger „an der Macht“ waren?

Die hier vertretene Sicht von Macht und Dominanz scheint mir reichlich archaisch. So lange wirtschaftlicher Fortschritt und Stärke nicht in gewaltsame Unterdrückung münden und sich stattdessen im Rahmen freiheitlicher und demokratischer Institutionen entwickeln, braucht niemand Angst vor wirtschaftlich erfolgreichen Nationen zu haben. Glücklicherweise gibt es viele Hinweise, dass sich Asien – jüngst aber auch die arabische Welt – immer stärker in dieser Richtung entwickeln.

Marktwirtschaft und Demokratie

Es sind nämlich genau die von Ferguson eingangs erwähnten Faktoren, wie Marktwirtschaft und Demokratie, welche auch in der restlichen Welt wirken. Wirtschaftlicher Erfolg geht mit zeitlicher Verzögerung einher mit demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen. Diesen Zusammenhang habe ich vor einigen Jahren gemeinsam mit Robert Barro empirisch untersucht.* Asien ist hier keine Ausnahme.

Falls es so etwas wie einen Normalzustand für zivilisierte Gesellschaften gibt, ist er trotz aller Unkenrufe und vieler Unzulänglichkeiten durch Marktwirtschaft und Demokratie gekennzeichnet. Alle abweichenden Versuche – wie Staatswirtschaft und Sozialismus – sind kläglich an der Realität gescheitert.

Beide Institutionen sind keine Erfindungen des modernen Westens. Demokratische Gesellschaftsordnungen finden sich schon in der Antike. Und Märkte entstehen spontan. Tausch und Handel haben die Menschen von je her begleitet. Deshalb existiert auch keine Bindung an Ost oder West.

Ob Asien wieder zum Zentrum der Welt wird, wie Mahbubani meint**, wird sich zeigen. Die Märkte, aber auch die Politik, sind mittlerweile derart integriert und interdependent, dass auch Asien kein Interesse am Niedergang des Westens haben kann.

*Demokratie: Ursache oder Folge von Wachstum? Analyse, Prognosen und politische Implikationen mit Robert J. Barro , in: Schweizer Monatshefte, Nr.75/Heft 9, Sept. 1995, S.28 – 33.

**The past two centuries of Western domination of world history have been a major historical aberration. All aberrations end eventually. Asia will return to centre stage again. However, many leading global minds cannot understand this because their mental maps have been trapped by narrow Western worldviews. The main goal of my writings is to awaken the world to the completely different historical era we are entering. My writings may take you out of your comfort zone but I hope they will help you to understand how different this century will be from previous centuries.

Quelle: www.mahbubani.net

Kommentare

Zu den genannten sozialen Problemen, auf welche China zusteuert, gehört auch die Alterung der Bevölkerung (NZZ vom 17. März 12, S. 11):

Chinas Senioren entdecken das Altersheim

Die Ein-Kind-Politik ist ein wichtiger Grund für die rasante Alterung der Bevölkerung im Reich der Mitte

Chinas Gesellschaft altert rasant. Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung nimmt auch wegen der restriktiven Geburtenpolitik zu. Der Umgang mit Senioren verändert sich, Altersheime gewinnen an Bedeutung. —

Deshalb mein Tipp für langfristig denkende Anleger: Unbedingt jetzt Aktien von chinesischen Altersheimen kaufen — oder solche gründen…

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