Man kann den Finanzmärkten ja so einiges vorwerfen. Manchmal sind sie launisch. Manchmal bilden sie Blasen. Aber letztlich schaffen sie etwas, das kein Parlament, keine Regierung und kein Stabilitätspakt garantieren kann: sie sorgen für finanzpolitische Disziplin. Ohne den Druck der Finanzmärkte würde das Schuldenmachen in Europa und den USA munter weiter gehen. Berlusconi und Papandreou wären noch im Amt. Patrick Chappatte hat dies in der «International Herald Tribune» treffend bildlich dargestellt.
Nützliche Märkte mit schlechtem Ruf
Volkswirtschaftlich gesehen erfüllen Finanz- und Kreditmärkte eine ganz zentrale Rolle. Sie verbinden das Sparen der privaten Haushalte mit der Investitionstätigkeit der Unternehmen. Ohne die Möglichkeit zum Sparen müssten wir unsere Altersvorsorge zinslos unter der Matratze horten. Und ohne die Möglichkeit zur Kreditnahme müssten Firmen die Mittel für Investitionen zunächst selbst vollständig erarbeiten. Wir hätten dann eine “maximal solide”, aber reichlich ineffiziente Wirtschaft.
Ihren schlechten Ruf haben sich die Finanzmärkte in den letzten Jahren teilweise selbst eingehandelt, indem es aufgrund massiver Liquidität — und damit tiefer Zinsen — zu Übertreibungen und Blasen kam. In wiefern dabei auch die Politik eine tragende Rolle spielte, werde ich in einem anderen Beitrag ausführlicher diskutieren.
Vorerst sei bezüglich der Staatsverschuldung der Euro-Länder nur bemerkt, dass sich die Politiker nicht an die früher vereinbarten Regeln und Kriterien gehalten haben. Die Maastricht-Kriterien, welche Grenzen für die jährliche Neuverschuldung sowie die Gesamtverschuldung eines Landes festlegen, wurden zuerst durch die heutigen “Retter” — Deutschland und Frankreich — massiv verletzt.
Märkte als Verführer?
Man kann den Finanzmärkten nun vorwerfen, dass sie die Politiker in einigen Ländern durch die seit Einführung des Euro tiefen Zinsen verführt hätten. Damit würden wir anerkennen, dass sich ganze Länder und deren Politiker genau so unvernünftig verhalten, wie Konsumenten, die sich aufgrund der Verfügbarkeit billiger Konsumkredite ins Schuldenelend stürzen.
Das mag sein. Interessanter ist aber die Frage, warum es die Finanzmärkte überhaupt so weit haben kommen lassen. Wieso haben sie nicht schon früher reagiert und die Notbremse über höhere Zinsen für Staatsanleihen oder Kreditausfallversicherungen (credit default swaps, CDS) gezogen?
Implizites Bail-Out-Versprechen
Offenbar haben die Märkte auf die Politiker vertraut. Als die Politiker ab 2004 gegen ihre eigenen Verschuldungsregeln zu verstossen begangen und vermehrt Defizite anhäuften, gingen die Märkte davon aus, dass die Politiker der Eurozone verschuldeten Staaten früher oder später zur Hilfe eilen würden. Dieses implizite Bail-Out-Versprechen stand zwar im Kontrast zur offiziellen Politik, welche sich gegen die Vergemeinschaftung von Schulden aussprach, besonders in Deutschland.
Dennoch war klar, dass das “Projekt Euro” für viele Politiker in erster Linie ein politisches Projekt war (und ist). Eines, das mit viel Prestige behaftet sehr lange durchgezogen würde, auch gegen ökonomischen Sachverstand. So blieben die Zinsen zu lange zu tief.
Und die Politiker der Eurozone reagierten, wie es die Märkte vermuteten. Statt Abweichler und Schummler (wie Griechenland) zu bestrafen, wurden sie durch Finanzspritzen und Rettungsschirme belohnt. Das Problem der Zeitinkonsistenz hatte mit voller Wucht zugeschlagen. Die angedrohte Bestrafung bei Verletzung der Maastricht-Kriterien war von Anfang an unglaubwürdig. Das haben die Finanzmärkte durchschaut.
Und die USA?
Ich befürchte, dass eine ähnliche Argumentation auch bezüglich der USA — dem weltweit grössten Schuldner — angebracht sein könnte. Auch hier schauen die Märkte (noch) relativ tatenlos zu. Trotz der rekordhohen Zahlungsbilanzdefizite und der enormen Staatsverschuldung, hat sich der US-Dollar lange nicht abgewertet. Der Grund liegt in der Wirtschaftskraft und Produktivität der USA, die bislang noch als guter Schuldner gilt.
Doch sobald grundlegende Zweifel an der Bonität der USA aufkommen, kann alles ganz schnell gehen. Und ein Bail-Out der USA wäre unmöglich. Durch wen denn auch?
Analog zum griechischen Drama, wo die EU-Staaten ein Interesse an der Rettung der Schuldnerländer haben — allen voran Deutschland und Frankreich, deren Banken stark als Gläubiger involviert sind — müsste sich China, als grösster Gläubiger, um die Rettung der USA bemühen.
Bleibt nur zu hoffen, dass die Finanzmärkte nicht bereits auf dieses Szenario setzen, stattdessen die Zinsen für die USA rechtzeitig anheben und so ihre Rolle als Provider of Last Discipline annehmen, bevor es für uns alle sehr, sehr teuer wird.