Die Einführung von Fallpauschalen bei Spitalbehandlungen bietet die Chance, unser Gesundheitswesen kostengünstiger zu machen und zugleich dessen Qualität zu steigern. Dies mag nach dem Wunschbild eines optimistischen Gesundheitsökonomen klingen, ist aber durchaus realistisch, wenn an der richtigen Stelle angesetzt wird – zum Beispiel bei den medizinischen Komplikationen. Zudem müssen die Fallpauschalen anreizkompatibel ausgestaltet sein.
Neue Studie des Unispital Zürich
Im Vorfeld der Einführung der Fallpauschalen ab 2012 (im Fachjargon DRGs genannt, diagnosis related groups) wird allenthalben über die möglichen Nebenwirkungen diskutiert. Gerne geht dabei ein Hauptanliegen der KVG-Revision vergessen, nämlich die Gesundheitskosten weniger stark wachsen zu lassen. Eine neue Studie des Unispital Zürich (USZ) gibt Hinweise, wie dies möglich ist.
Die Forscher haben anhand der Daten von 1200 Patienten untersucht, welche Faktoren die Fallkosten von grossen chirurgischen Eingriffen beeinflussen: «Die Studie belegt erstmals deutlich, dass vor allem Komplikationen Kostentreiber sind. (…) Bei komplikationslosem Verlauf betrugen die durchschnittlichen Kosten pro Fall knapp 28′000 CHF, bei einer Komplikation des höchsten Grades rund 160′000 CHF.» Quelle.
Dieser Befund hat offenkundig auch gesundheitsökonomische Implikationen. Denn erstens haben Komplikationen während oder nach chirurgischen Eingriffen nicht nur für die Betroffenen schwerwiegende Folgen, sondern sie sind auch mit einem verzögerten Genesungsprozess verbunden, was zu längerem Arbeitsausfall und damit zu volkswirtschaftlichen Kosten führt. Im schlimmsten Falle führen Komplikationen zu irreparablen Schädigungen oder zum Tode.
Zweitens erhöhen Komplikationen die direkten medizinischen Kosten. Deren Anstieg um das Fünffache ist gemäss der Zürcher Studie möglich. Weil in der Schweiz für ambulante und stationäre Akutbehandlungen in Krankenhäusern im Jahre 2009 über 20 Milliarden CHF ausgegeben wurden, ist hier ein enormes Sparpotential zu orten: «Extrapoliert man die Resultate der Studie auf die Gesundheitsausgaben, so verursachen Komplikationen Kosten in Milliardenhöhe. Daher muss der medizinischen/chirurgischen Versorgungsqualität grösste Bedeutung beigemessen werden.» Quelle.
Fallpauschalen…
Wird ein Fall – beispielsweise ein chirurgischer Eingriff – mit einer Pauschale entgolten und ist das Spital auch für die Versorgung der medizinischen Folgen allfälliger Komplikationen verantwortlich, besteht für das Spital ein starker Anreiz, Komplikationen zu minimieren. Dadurch werden nicht nur Kosten gespart (im Gegensatz dazu verdient das Spital heute an der zusätzlichen Behandlung der Komplikationen), sondern es erhöht sich auch die Ergebnisqualität.
…müssen anreizkompatibel ausgestaltet sein
Damit dieser ökonomische Anreiz wirklich greift, müssen aber mindestens drei Bedingungen gelten, um unerwünschte Nebenwirkungen – sprich strategisches Verhalten der Spitäler – zu vermeiden.
Erstens muss durch eine rigorose Aufnahmepflicht verhindert werden, dass Spitäler Patienten abwimmeln, bei denen sich ex ante eine erhöhte Komplikationsrate vermuten lässt. Insbesondere ältere und multimorbide Patienten könnten ansonsten abgeschoben werden. In der Praxis werden die kantonalen Gesundheitsdirektionen vor die Herausforderung gestellt, diese Aufnahmepflicht für Spitäler auf den kantonalen Spitallisten auch durchzusetzen. Schon heute besteht vereinzelt die Tendenz, komplexe Fälle mit der Begründung mangelnder Kapazität („wir sind schon voll“) nicht aufzunehmen.
Zweitens muss bei der Berechnung der Fallpauschale berücksichtigt werden, dass sich gewisse Komplikationen in der medizinischen Praxis nicht immer vollständig vermeiden lassen. Wenn beispielsweise bei einem Eingriff – der nach allen Regeln der Kunst durchgeführt wird – in 10% der Fälle dennoch Komplikationen auftreten und dadurch Kosten von durchschnittlich 1‘000 CHF entstehen, muss die Pauschale den Erwartungswert von 100 CHF für Komplikationen beinhalten. Dieser „Zuschlag für übliche Komplikationen“ muss anhand gesicherter Statistiken berechnet und periodisch überprüft werden.
Drittens dürfen erhöhte Pauschalen für die Behandlung der Folgen von Komplikationen nur ganz ausnahmsweise entrichtet werden. Wie die Zahlen der USZ-Studie belegen, können Komplikationen medizinische Folgekosten von vielen 10‘000 CHF verursachen. Für die zusätzliche Abgeltung solcher Kosten ist zu verlangen, dass sie aufgrund völlig unabsehbarer und keinesfalls vermeidbarer Komplikationen entstanden sind. Würden die Folgekosten von Komplikationen ausserhalb der Pauschale routinemässig entschädigt, ginge der Anreiz zu deren Vermeidung verloren.
Fragliche Umsetzung
Die erste Version des Schweizer Fallpauschalenkatalogs lässt bezüglich dieser Anforderungen allerdings gewisse Zweifel aufkommen. Denn der Katalog unterscheidet nicht zwischen Komplikationen und Komorbiditäten. Letzteres sind Begleiterkrankungen, welche Auslöser für Komplikationen sein können und deshalb manchmal eine höhere Pauschale rechtfertigen mögen. Komplikationen ohne Komorbiditäten sollten aber nur gemäss ihrem Erwartungswert in die Pauschale einfliessen (vgl. Anforderung zwei, oben).
Immerhin lösen nur „schwere“ und „äusserst schwere“ Komplikationen und Komorbiditäten eine erhöhte Fallpauschale aus. Je nach Fallgruppe, kann sich die Pauschale dadurch mehr als verdoppeln. Die korrekte Bemessung des erhöhten Kostengewichts ist dabei nicht ganz trivial. Wird dieses zu hoch angesetzt, können multimorbide Patienten zu „rentablen Fällen“ werden, während sie andernfalls Gefahr laufen, abgeschoben zu werden. Die Praxis wird zeigen, ob diese Höherstufungen eher die Regel oder – wie oben in Anforderung drei gefordert – die deutlich Ausnahme bilden. Entsprechende Anpassungen aufgrund der Erfahrungswerte sind nicht auszuschliessen.
Konsequenzen
Die Konsequenzen anreizkompatibler Fallpauschalen liegen unter anderem in der Minimierung von Komplikationen. Hinweise darauf, wie dies geschehen kann, liefern die Autoren der USZ-Studie. Sie propagieren eine „Konzentration von seltenen und komplikationsanfälligen Operationen auf einige Zentren, durch (Sub)Spezialisierung nach dem Vorbild der UEMS (Union Européenne des Médicins Spécialistes) und durch die Optimierung und Anpassung der Prozesse in Spitälern.“
Besser hätte es kein Gesundheitsökonom ausdrücken können. Die Abkehr von der Vorstellung, dass jedes Spital sämtliche Leistungen in bester Qualität und zu vernünftigen Kosten erbringen könnte, ist damit endgültig besiegelt.
Dass hiervon auch Kantonsspitäler betroffen sein können, mag für manche Kantonspolitiker eine schmerzliche Einsicht darstellen. Der Weg zu Gesundheitsgemeinden oder Versorgungsregionen über die Kantonsgrenzen hinweg, ist aber ganz klar vorgezeichnet. Rein kantonale Spitalplanungen sind ein Anachronismus, den wir uns nicht länger leisten dürfen.