23.05.2011

Führen Fallpauschalen zur Überbehandlung?

Ab nächstem Jahr werden Spitalleistungen in der Schweiz über Fallpauschalen abgegolten. Statt dass bei einem Eingriff jeder Handgriff und jedes Pflästerli einzeln abgerechnet wird, erhält das Spital eine Pauschale für den gesamten Eingriff, weitgehend unabhängig vom effektiven Aufwand. Damit soll der Anreiz gemindert werden, medizinisch unnötigen Aufwand zu betreiben, wie etwa Patienten übermässig  lange im Spitalbett zu behalten, nur um Einnahmen zu generieren.

Am letzten Freitag stellte der Chefarzt eines Zürcher Regionalspitals, Christian Hess, in der TV-Sendung Arena die Behauptung auf, dass Fallpauschalen zur Überbehandlung von relativ gesunden Menschen führen.* Diese Aussage ist Unsinn und wirft ein schräges Licht auf das Gebaren, welches gemäss Hess in manchen Spitälern herrscht.

Die Einführung von Fallpauschalen ist in unserem Land mit vielerlei Ängsten und Vorbehalten verbunden. Die meisten davon sind empirisch unbegründet.** Dass nun aber Fallpauschalen zur Überbehandlung führen sollen, ist neu. Wenn schon, besteht die gegenteilige Befürchtung, dass nämlich eine Tendenz zur Unterbehandlung bestehen könnte.

Der Grund ist einfach. Wenn ein Spital für eine Behandlung oder einen Eingriff einen fixen Betrag erhält, kann es versuchen, durch Minimierung der Leistungen die Kosten möglichst tief zu halten und so zu sparen. Einer Unterbehandlung sind allerdings Grenzen gesetzt, indem allfällige Folgekosten – beispielsweise aufgrund einer zu frühen Entlassung und folgenden Rehospitalisierung – zu Lasten des Spitals gehen.

Wie kommt Chefarzt Hess also auf die Idee der Überbehandlung von „relativ Gesunden“ aufgrund von Fallpauschalen? Aus den von ihm zitierten Beispielen der Zunahme von Knie- und Hüftoperationen in Deutschland geht hervor, dass dort offenbar mehr Fälle generiert werden, als zuvor. Es ist also nicht so, dass im Rahmen von Pauschalen unnötige Leistungen erbracht werden, sondern dass (gemäss seinen Aussagen) unnötige Fälle künstlich erzeugt werden, um die Einnahmen der Spitäler zu erhöhen.

Dies hat allerdings nichts ursächlich mit der Einführung von Fallpauschalen zu tun. Auch ohne Pauschalen könnten Spitäler heute schon versuchen, sich Einnahmen durch zusätzliche, aber medizinisch nicht notwendige Eingriffe zu sichern. Gemäss Hess findet solches im Ausland statt. Zu behaupten, dass derartiges Verhalten auch bei uns im Rahmen der Einführung von Fallpauschalen vermehrt Einzug halten würde und es das grösste Problem aus Patientensicht sei, ist ein happiger Vorwurf an unsere Spitäler seitens eines Schweizer Chefarztes.

An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie viel Sachkenntnis in dieser Materie nötig ist. Mein Versuch der Richtigstellung der falschen Argumentation in der Sendung, scheiterte kläglich. Um es nochmals klar zu sagen: Wenn ein Spital seinen Ärzten Vorgaben bezüglich Anzahl und Fallschwere der zu erbringenden Leistungen macht und dies dazu führt, dass medizinisch unnötige Behandlungen durchgeführt werden, hat dies per se nichts mit dem Fallpauschalensystem zu tun.

Die Arena vom 20. Mai hat für mich vor allem zwei Dinge gezeigt:

Erstens lassen sich fast beliebig Pseudo-Kausalitätsketten bilden. Anhand ausgewählter Einzelfälle werden Zusammenhänge konstruiert, die weder der Empirie noch den Gesetzen der Logik entsprechen müssen. Meistens reicht es zu sagen “ich habe in meinem Spitalalltag erlebt…” , um glaubwürdig zu wirken und stringenten Argumenten auszuweichen. Statistiken wirken blass und abstrakt im Vergleich zu strategisch gewählten Beispielen „aus dem Alltag.“

Es zeigt sich bereits jetzt, dass die Fallpauschalen als angebliche Ursache für alles herhalten müssen, was einer Interessengruppe im Gesundheitswesen missfällt. Wenn die Kosten weiter steigen, Personalmangel herrscht, Patienten schlecht behandelt werden etc. wird es zukünftig immer an den Fallpauschalen liegen.

Um zu verhindern, dass die neue Spitalfinanzierung – und insbesondere die Fallpauschalen – zum idealen Sündenbock wird, ist es zweitens dringend angezeigt, dass möglichst rasch ein begleitendes Monitoring aufgezogen wird. Alle Parteien waren sich in der Arena einig, dass eine Begleitforschung absolut notwendig ist. Leider lässt diese bislang auf sich warten, sodass das neue System gewissermassen im Blindflug starten wird. Mehr hierzu im nächsten Blogeintrag.


Anmerkungen

*Zitat Hess aus der Arena Sendung vom 20.5.11:

„Das grösste  Problem (mit den Fallpauschalen) aus Patientensicht ist, dass relativ Gesunde überbehandelt werden. Weil das sind gute Risiken, da können sie einen guten DRG machen. Sie haben eine gute Qualitätskontrolle. … Seit Einführung der DRGs haben in Deutschland Knieoperationen um 52% und Hüftoperationen um 18% zugenommen. Der Grund ist, dass alle Geld generieren müssen, sie bekommen Vorgaben … .“

Anm.: Dass die Entwicklung der Operationsmengen nicht mit den Fallpauschalen in Zusammenhang steht, hat der Direktor des Spitalverbandes, Bernhard Wegmüller, klar dargelegt. In der Schweiz hat nämlich der selbe Anstieg stattgefunden – ohne Fallpauschalen.

**Der interessierten Leserschaft sei die Analyse von Urs Brügger empfohlen: Impact of DRGs, Nr. 98, Schriftenreihe der SGGP, 2010.


Eine gute Übersicht der Diskussion um die Fallpauschalen findet sich auf Infosperber.ch

Kommentare

[...] wieder, so auch im Blog “Die Welt – ökonomisch gesehen”, wird auf die Gefahr hingewiesen, dass “dank” der Fallpauschalen Überbehandlungen [...]

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