Über die hohen Kosten unseres Gesundheitswesens ist schon viel geklagt und geschrieben worden. Mangelnder Wettbewerb, demographische Alterung und medizinischer Fortschritt beeinflussen die Kostenentwicklung. Beim Vergleich mit dem Ausland stechen aber weitere Faktoren hervor, über deren Bedeutung und Kostenrelevanz man sich hierzulande weniger bewusst ist.
Die Schweiz kennt nämlich kaum Wartelisten. Zudem gewährt sie freien Zugang zu praktisch allen medizinischen Leistungen und obendrein die freie Arztwahl. In Ländern mit tieferen Gesundheitskosten ist dies anders.
Die Unterschiede sind eindrücklich. Gemäss OECD gab die Schweiz im Jahre 2008 pro Kopf der Bevölkerung umgerechnet 4‘627 US$ aus, während es in den Niederlanden nur 4‘063 US$ (-12%), in Australien 3‘448 US$ (-25%) und in Grossbritannien 3‘129 US$ (-32%) waren.*
Weil in diesen Zahlen die unterschiedlichen Preis- und Lohnniveaus bereits berücksichtig sind, könnte man vermuten, dass die Leistungen des Gesundheitswesens bei uns ganz einfach besser sind und deshalb mehr kosten. Klar belegen lässt sich eine höhere medizinische Qualität allerdings kaum. Und die Lebenserwartung ist mit über 80 Jahren in allen drei Ländern recht ähnlich.**
Woran liegt es also, dass wir etwa im Vergleich zu den Australiern pro Kopf und Jahr 1‘200 US$ oder im Vergleich zu den Briten über ein Drittel mehr ausgeben?
Ein erster Grund liegt in den Wartezeiten. In Australien betragen diese bei den meisten chirurgischen Eingriffen mehrere Monate. Im Staat Queensland befinden sich durchschnittlich 200‘000 Patienten auf der Warteliste, um einen Spezialisten zu sehen. In öffentlichen Spitälern kann es bis zu vier Jahre dauern, bis eine Frau einen Termin beim Gynäkologen bekommt. Bis zu einer halben Million Australier warten mehr als zwei Jahre auf dringende, zahnmedizinische Eingriffe. Das Stadtspital in Townsville bezeichnet es als grossen Erfolg, dass die maximale Wartezeit für wichtige chirurgische Eingriffe (wie etwa in den Bereichen Urologie, HNO, Orthopädie) von sechs Jahren auf zwei Jahre verkürzt werden konnte.
Von solchen Zuständen sind wir in der Schweiz glücklicherweise weit entfernt. Wir verfügen über enorme Kapazitäten, vor allem im stationären Bereich, die uns in aller Regel eine rasche Behandlung erlauben. Und vermutlich kommt man nirgends so schnell zum Spezialisten wie bei uns.
Dies hat damit zu tun, dass die Spezialärzte in der Schweiz private Praxen führen und auf eigene Rechnung arbeiten können. In den genannten Ländern sind Spezialärzte hingegen fast nur im Spital anzutreffen. Der Zugang erfolgt über die Zuweisung durch den Hausarzt.
Bei uns hingegen kann jeder von sich aus einen (oder mehrere) Spezialisten aufsuchen und sich von diesem auch im Spital operieren lassen, falls es sich um einen Belegarzt handelt. Das kann für den Patienten Vorteile haben, eröffnet den Spezialärzten aber auch die Möglichkeit, direkt am Markt aufzutreten und Kunden zu sichern.
Dass der direkte Zugang zu Spezialisten tendenziell kostentreibend wirkt zeigt sich unter anderem darin, dass die Krankenkassen den Versicherten Prämienrabatte gewähren, falls sie einem Hausarztmodell beitreten und sich verpflichten, zunächst den Hausarzt zu konsultieren. In den Niederlanden, Australien und Grossbritannien – sowie den meisten anderen Ländern – ist das Hausarztmodell der Standard.
Die Hausärzte üben eine Funktion als „Gatekeeper“ aus, indem sie zunächst abklären, ob der Gang zum (teuren) Spezialisten tatsächlich notwendig ist. Weil zudem Doppelspurigkeiten, etwa aufgrund paralleler Behandlung durch verschiedene Ärzte, vermieden werden, lassen sich durch das „Gatekeeping“ in vielen Fällen Kosten einsparen.***
Allerdings ist es wichtig, dass die Hausärzte für ihre Rolle als „Leuchttürme des Gesundheitswesens“ bereits im Rahmen der Ausbildung gut vorbereitet werden. Diesbezüglich besteht in der Schweiz vermutlich einiger Nachholbedarf.
Geringe Wartezeiten können gesundheitsökonomisch durchaus vorteilhaft sein, indem Patienten ihrer Berufstätigkeit rascher wieder vollständig nachgehen können und Folgekosten durch späte Behandlung vermieden werden. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass Konsultationen und Behandlungen übereilt erfolgen. – Dies ist keinesfalls als Plädoyer für lange Wartezeiten zu verstehen. Aus Sicht der Volksgesundheit und der Gesundheitsökonomie interessant und relevant wäre aber eine Analyse die zeigt, in welchen Fällen Wartezeiten zu zusätzlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Kosten führen und in welchen Fällen sie die Vermeidung von unnötigen Eingriffen bewirken.****
Eine weitere Eigenheit unseres Gesundheitswesens ist die so genannte freie Arztwahl. Diese habe ich bereits früher ausführlicher diskutiert; siehe hier. Aus Distanz betrachtet, wirkt es etwas eigentümlich, wie stark manche in der Schweiz an der Möglichkeit hängen, den behandelnden Arzt jederzeit neu wählen zu können. In den Niederlanden oder in Grossbritannien ist es völlig selbstverständlich, dass man den im Wohngebiet zuständigen Arzt aufsucht. Dass in diesen Ländern keinerlei Diskussion um die Arztwahl besteht, beruht auf der Gewohnheit an ein funktionierendes System.
Schliesslich gewährt unsere Grundversicherung der gesamten Bevölkerung einen breiten Zugang zu einer grossen Zahl (auch teurer) medizinischer Leistungen. Unsere Politik und die Zulassungsbehörden haben eine Diskussion um eine Beschränkung des Zugangs zu bestimmten (teuren) Leistungen bislang tunlichst vermieden. Während etwa in Grossbritannien klare ökonomische Kriterien dafür bestehen, bis zu welcher Höhe Kosten durch die Grundversicherung übernommen werden müssen, hat diese Debatte bei uns erst aufgrund eines kürzlich gefällten Bundesgerichtsurteils begonnen. Weil zudem weder der Bund noch die Kantone über harte Gesundheitsbudgets verfügen, entwickeln sich die Gesundheitsausgaben gemäss des steigenden Angebots und der Inanspruchnahme von Leistungen ungebremst weiter.
Unser Gesundheitswesen führt deshalb im Ausland regelmässig zu Erstaunen. Niederländer können oft nicht nachvollziehen, warum wir anscheinend an der freien Arztwahl hängen, wo wir doch nicht einmal die Schule für unsere Kinder frei wählen können. Und mit der Frage, wie wir in der Schweiz die knappen Mittel im Gesundheitswesen verteilen, haben mich die Australier in Erklärungsnot gebracht. Denn eigentlich umgehen wir das Problem, indem wir laufend mehr Mittel zur Verfügung stellen. Dies wiederum verblüfft die Briten, welche sich an Gesundheitsbudgets gewöhnt sind, mit welchen es auszukommen gilt. Das Resultat sind auch hier lange Wartelisten.
Zusammenfassend kann man davon ausgehen, dass gewisse Kostentreiber alle entwickelten Länder vor ähnliche Herausforderungen stellen – so etwa der medizinische Fortschritt, der Mangel an kostensenkenden Prozessinnovationen und die demographische Alterung. Die massgeblichen Kostenunterschiede zuungunsten der Schweiz können aber aufgrund bestimmter Charakteristika der Gesundheitssysteme zumindest teilweise erklärt werden. Denn…
- verfügt das Schweizer Gesundheitswesen über grosse (Über)Kapazitäten. Diese stellen im Quervergleich zu den anderen Ländern einen wesentlichen Kostenfaktor dar, bringen aber auch geringe Wartezeiten mit sich.
- gewährt unser Gesundheitswesen einen raschen und direkten Zugang zu Spezialärzten sowie die freie Wahl des Arztes. Systeme in welchen der Zugang zum Gesundheitswesen immer über einen Gatekeeper erfolgt, haben sich als insgesamt kostengünstiger erwiesen.
- ermöglicht unser Gesundheitswesen der gesamten Bevölkerung einen breiten, nahezu uneingeschränkten Zugang zu einer grossen Zahl von Leistungen und unterliegt keinen strikten Budgets. Die Diskussion um eine kostenseitige Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Leistungen wurde dadurch bislang vermieden.
Positiv zusammengefasst, erhält bei uns die gesamte Bevölkerung durch die Grundversicherung einen schnellen und weitgehend uneingeschränkten Zugang zu einer breiten Palette medizinischer Leistungen. All dies ist aber nicht gratis und begründet die im Vergleich zu anderen Ländern deutlich höheren Kosten.
Will man das Kosten- und Prämienwachstum besser in den Griff bekommen, ergeben sich aus dieser Analyse etwa folgende Ansatzpunkte.
Erstens ist die Ausweitung der Kapazitäten, vor allem im stationären Bereich, zu beschränken. Gewisse Wartezeiten für elektive Eingriffe wären dann in Kauf zu nehmen.
Zweitens wird der Zugang zu medizinischen Leistungen über Hausärzte bzw. über integrierte Netzwerke geregelt. Wer den Arzt jederzeit frei wechseln will und unmittelbaren Zugang zu Spezialisten wünscht, hat für diese Optionen einen Aufpreis zu entrichten.
Drittens sind der Leistungskatalog und die Prozesse der Leistungszulassung zu hinterfragen. Vor dieser Debatte ist man bislang zurück geschreckt, doch erscheint sie ebenso heikel wie unausweichlich, falls die Prämienentwicklung gedämpft werden soll.
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*Gesundheitsausgaben pro Kopf in US$ (kaufkraftbereinigt, 2008), vgl. OECD Health Data
**Die allgemeine Lebenserwartung ist allerdings ohnehin kein besonders guter Indikator für die Qualität des Gesundheitswesens. Wie bereits in einem früheren Blogbeitrag erwähnt, wird die Gesundheit der Bevölkerung grösstenteils durch andere Faktoren bestimmt, als das Gesundheitsversorgungssystem.
***Die Gegenposition mancher Spezialärzte lautet, dass es besser sei, wenn die Patienten möglichst schnell zum Spezialisten gelangen und dort „richtig“ behandelt werden, ohne dass der Hausarzt zunächst gemäss seinen Möglichkeiten behandelt (vgl. Interview). Diese Einschätzung teile ich im Allgemeinen nicht, denn sie setzt voraus, dass der Patient selbst eine klare Diagnose erstellen kann und von sich aus zum richtigen Spezialisten geht. Stattdessen wäre es Aufgabe des Hausarztes, eine Diagnose zu erstellen und zu entscheiden, wie die weitere Behandlung effektiv und kostengünstig durchzuführen ist. – Wenn der Spezialist im Interview findet, dass es unnötig sei, den Hausärzten durch das „Gatekeeping“ zusätzliche Kundschaft zu verschaffen, wird auch ein interner Konflikt innerhalb der Ärzteschaft offenbar.
****In Australien wurde mir z.B. von Fällen berichtet, in denen Patienten reihenweise von der Warteliste für herzchirurgische Eingriffe gestrichten wurden, weil in der Zwischenzeit effektive und günstige medikamentöse Behandlungsmethoden entwickelt wurden. Wären sie sogleich operiert worden, hätten sie letztlich die schlechtere medizinische Behandlung erfahren und die Kosten wären deutlich höher gewesen.